Von Ralf Lange
Am 5. Juli 2015 war es soweit. Die UNESCO gab bei ihrer Welterbe-Konferenz in Bonn bekannt, dass die Speicherstadt und das angrenzende Kontorhausviertel aus den 1920er- und 1930er-Jahren mit seinen damals hochmodernen Bürohäusern, allen voran das spektakuläre Chilehaus, als Welterbe anerkannt werden. Kultursenatorin Barbara Kisseler und Vertreter des Hamburger Denkmalschutzamtes waren vor Ort, und obwohl schon Wochen vorher Optimismus an der Elbe verbreitet worden war, fiel wohl allen eine Last von den Schultern, als endlich bekannt gegeben wurde, dass Deutschland nun eine vierzigste Welterbestätte hat. Das Votum fiel einstimmig, und die Senatorin konnte in ihrem ersten offiziellen Statement denn auch nicht verhehlen, dass sie so viel Sympathie für die Hansestadt nicht nur als ehrend, sondern auch als emotional berührend empfand. Überzeugt haben nicht nur die hohe Qualität der beiden Ensembles und ihr guter Erhaltungszustand im Sinne der Integrität und Authentizität, sondern auch das Argument, dass sie sich funktional komplementär ergänzen: Auf der einen Seite des Zollkanals lagerten früher hochwertige Importgüter wie Kaffee, Kakao, Kautschuk, Tabak oder Gewürze.
Auf der anderen Seite konzentrierten sich die Kontore der Handelshäuser, die dafür sorgten, dass stetig Schiffe mit derartigen Waren Hamburg anliefen. Mit der Speicherstadt und dem Kontorhausviertel gelang aber nicht nur eine überaus symbolträchtige städtebauliche Inszenierung, die den Rang Hamburgs als führender Welthafen und Welthandelsplatz illustriert. Hier werden auch allgemeine Entwicklungen deutlich, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert in den Industrieländen aufgrund des immer größeren Bedarfs an Rohstoffen und anderen Importgütern vollzogen, was den universellen Rang der beiden Ensembles ausmacht.
Alles begann mit einem historischen Zufall
Die Speicherstadt spielte zwar gut 100 Jahre lang eine zentrale Rolle im Hamburger Hafen, ihre Entstehung verdankte sich aber zunächst nicht rationalem planerischen Kalkül, das die Hafenexpansion im Auge hatte, sondern einem historischen Zufall. Hätte Bismarck den Senat nicht 1881 zu einem Zollanschlussvertrag gedrängt, wäre das Lagerhausviertel wohl nie gebaut worden. Bei der Reichsgründung 1871 waren große Teile Hamburgs nämlich noch außerhalb des Zollgebiets geblieben, wodurch der Stadtstaat jedoch immer stärker in Widerspruch zu den politischen Zielen des „Eisernen Kanzlers“ geriet. Als Ausgleich für die verlorenen Zollprivilegien wurden große Teile des aktuellen und zukünftigen Hafengebiets mit Zäunen als Freihafen ausgegrenzt.
Hier durften die Importgüter weiterhin zollfrei umgeschlagen, gelagert und sogar verarbeitet werden. Im zukünftigen Freihafengebiet gab es allerdings kaum Lagerflächen, konzentrierten sich die Lagerhäuser doch bis dahin vor allem an den Fleeten der Innenstadt. Deshalb wurde die Bebauung der Brookinseln für den Bau der Freihafenspeicher geopfert und dieses Gebiet dem Freihafen zugeschlagen.
In der Diskussion waren zwar auch alternative Standorte; der Senat hatte aber von Anfang an die Inselgruppe im Visier, weil diese verkehrsgünstig an der Nahtstelle zwischen den Häfen auf dem Großen Grasbrook und der südlichen Altstadt lag, wo die meisten Kaufleute ihre Kontore hatten. Für diesen Standortvorteil nahm man auch in Kauf, dass 16.000 Menschen ihre Wohnungen verloren – für die es übrigens weder nennenswerte finanzielle Beihilfen noch Ersatzwohnraum gab. Das überließ man damals dem freien Markt.
Erstaunliche Technik hinter neogotischen Fassaden
Die Speicherstadt wurde von 1885 bis 1927 in drei Abschnitten errichtet. Der erste Bauabschnitt, der sich von der Kehrwiederspitze bis zum Kannengießerort erstreckte, entstand ab 1885 und konnte pünktlich zum Zollanschluss am 15. Oktober 1888 in Betrieb genommen werden. Von 1891 bis 1896 folgten die Speicherblöcke am St. Annenufer und am Neuen Wandrahm. Von 1899 bis 1927 wurden die Blöcke am Alten Wandrahm, am Holländischen Brook und am Brooktorkai realisiert. Der erste Bauabschnitt der Speicherstadt konnte deshalb so schnell errichtet werden, weil die genieteten Einzelteile der Eisenskelette montagefertig aus dem Ruhrgebiet geliefert wurden.
Bei Nichteinhaltung der Lieferfristen drohten Konventionalstrafen. Und auch vor Ort wurde dafür gesorgt, dass alle Arbeitsschritte reibungslos und termingerecht ineinandergriffen. Später gab man allerdings aus Brandschutzgründen der Zimmermannskonstruktion bzw. feuersicher ummantelten Stützen den Vorzug. Das ist nur scheinbar paradox, denn dicke Holzbalken sind im Brandfall weitaus weniger problematisch als unverkleidetes Eisen.
Die maßgeblichen Architekten der Speicherstadt waren Franz Andreas Meyer, der Oberingenieur der Stadt Hamburg, der für die Infrastruktur einschließlich der Brücken sowie die technischen Bauten verantwortlich zeichnete, und Georg Thielen, von dem die meisten Blöcke im ersten Bauabschnitt stammten. Meyer und Thielen hatten das Polytechnikum in Hannover besucht, das durch Conrad Wilhelm Hase geprägt wurde.
Franz Andreas Meyer
Franz Andreas Meyer (* 6. Dezember 1837; † 17. März 1901) war ein deutscher Architekt sowie Oberingenieur der Stadt Hamburg. In diesen Funktionen war er maßgeblich für die Errichtung der Speicherstadt einschließlich der Brücken sowie der technischen Bauten verantwortlich. Meyer, geboren und aufgewachsen in Hamburg, studierte zusammen mit Georg Thielen (1853–1901), der ebenfalls maßgeblicham Entwurf der Speicherstadt beteiligt war, am Polytechnikum in Hannover.
Hases Leitbild war die Backsteingotik, wobei es ihm aber nicht nur um den Stil ging, sondern auch um das Gestalten mit Backstein – für das das mittelalterliche Bauen im Norden vielfältige Anregungen bot. Die Speicherwinden und die Hebebühnen, mit denen die meisten Keller ausgerüstet waren, wurden hydraulisch angetrieben, d.h. mit Druckwasser. Höchsten technischen Ansprüchen genügte auch die Speicherbeleuchtung, die aus Sicherheitsgründen bereits 1888 voll elektrifiziert war. Die Speicherstadt erhielt deshalb ein Kesselhaus, das die Dampfenergie für den Antrieb der elektrischen Generatoren und der Pumpen für die Windenhydraulik lieferte, die nebenan in der Maschinenzentralstation standen. Letztere taten übrigens bis nach dem Zweiten Weltkrieg Dienst. Erst 1953 wurden die Winden auf Elektromotoren umgerüstet.
Schlusssteinlegung mit dem Kaiser
Der 29. Oktober 1888 war ein bedeutender Tag in der Historie der Speicherstadt. Nachdem zwei Wochen zuvor, am 15. Oktober 1888, bereits der Beitritt Hamburgs in das Deutsche Zollgebiet offiziell geworden war und die Freie und Hansestadt damit ihren Status als Zollausland verloren hatte, sollte nun auch der Freihafen mit seinen in Rekordzeit von sieben Jahren geplanten und errichteten Zollanschlussbauten eingeweiht und eröffnet werden. Als Ort für die Feierlichkeiten war die Brooksbrücke, einer der Hauptzugangswege zur Speicherstadt, auserkoren worden. An diesem Ort setzte der junge Kaiser Wilhelm II. in einer feierlichen Zeremonie unter den Augen Zehntausender Hamburger den Schlussstein ein.
Als die Hamburger Baudeputation im August 1888 mit den Vorbereitungen für den festlichen Akt begann, war der Schauplatz des Geschehens mit der gerade fertiggestellten Brooksbrücke schnell gefunden, da sie grenzüberschreitend ein imposantes Bindeglied zwischen der Stadt Hamburg und dem Freihafengebiet abgab. Dem Deutschen Kaiser, der sein Kommen zugesagt hatte, sollte der Tag mit einem stattlichen Rahmenprogramm nicht nur die Speicherstadt, sondern die gesamte Stadt Hamburg von seiner besten Seite zeigen. Ziel war es, den Kaiser nachhaltig zu beeindrucken. Der bis ins kleinste Teil durchgeplante 29. Oktober wurde kurzerhand für dieses Jahr zum Feiertag erklärt, damit die Hamburger Bevölkerung statt zu arbeiten ihrem Staatsoberhaupt immer und überall zujubeln konnte. So solle ein angemessener feierlicher Rahmen gewährleistet und sichergestellt werden, dass dem Kaiser der gebührende Respekt gezollt wurde.
Seine kaiserliche Hoheit Wilhelm II. traf zur Mittagszeit mit dem Zug ein. Nach einem Essen durfte er sich auf einer Alsterbootsfahrt die Hamburger Innenstadt ansehen. Die Alsterufer waren während der gesamten Fahrt voller Schaulustiger, dazu geleiteten alle verfügbaren Alsterdampfer, ebenfalls voller Zuschauer, das kaiserliche Boot. Auf der Binnenalster waren zusätzlich Tribünen auf Schuten aufgestellt worden. Danach wurde er per Kutsche zur Brooksbrücke gefahren. Während der gesamten Dauer dieser Fahrt jubelten ihm die Hamburger unentwegt zu. Nach der Zeremonie stand eine Barkassenfahrt durch die soeben eröffnete Speicherstadt und dem Freihafen auf dem Programm. Danach ging es durch die geschmückte Innenstadt zu einem Festessen in die Kunsthalle am Hauptbahnhof. Dort sprach Wilhelm II. folgende Sätze:
“Mit hoher Genugtuung erfüllt mich der heutige Tag und ich hoffe, dass Gottes Segen darauf ruhen wird, und dass die Stadt Hamburg durch diese Tat einen Aufschwung erleben wird, der alle unsere Hoffnungen übersteigt. Sie haben einen großen Dienst für das Vaterland geleistet; Sie sind ja diejenigen, die das Vaterland mit unsichtbaren Banden an die fernen Weltteile weiterhin anknüpfen, seine Erzeugnisse herüberzubringen. Und nicht nur das; Sie sind es, die auch unsere Gedanken und Ideen der Welt mitteilen, wofür Ihnen das Vaterland besonderen Dank schuldet.”
Kaiser Wilhelm und der Schlussstein
Die Veranstaltung begann mit einer einleitenden Rede des damaligen Bürgermeisters Johann Versmann. Im Anschluss daran wurde die Urkunde zum vollzogenen Zollanschluss der Stadt verlesen. Danach nahm der Kaiser höchstpersönlich Hammer und Kelle in die Hände und weihte die Speicherstadt mit Mörtelwurf und Hammerschlag sowie folgenden Worten ein:
“Zur Ehre Gottes, zum Besten des Reiches, zu Hamburgs Wohl!”
Dieses Prozedere wurde nach dem Kaiser von allen weiteren Ehrengästen wiederholt. Zum Schluss der Zeremonie wurde noch der geistliche Segen eingeholt, danach war das Spektakel vorbei. Die Inschrift des Schlusssteins, der sich heute immer noch an der Brücke befindet, lautet: Kaiser Wilhelm II. setzte diesen Stein am 29. Oct 1888 bei dem Anschluss Hamburgs an das deutsche Zollgebiet
Nach dem Weltkrieg wurde ein Architekt zum Retter
Bei den Luftangriffen Im Zweiten Weltkrieg wurde die Speicherstadt zu 50 Prozent zerstört. Dass man ihr diese Schäden heute nicht mehr ansieht, ist dem Architekten Werner Kallmorgen zu verdanken. Kallmorgen war bestrebt, von der historischen Architektur so viel wie möglich wiederherzustellen – was ihm so überzeugend gelang, dass auch die UNESCO den Wiederaufbau der Speicherblöcke explizit würdigte. Konsequent neu konzipiert wurden dagegen diejenigen Gebäude, die nahezu völlig zerstört waren, wie die östliche Hälfte von Block G. Hier wurde anstelle der ursprünglichen Lagerflächen die Kaffeebörse errichtet.
1967 war der Wiederaufbau der Speicherstadt abgeschlossen. Zwanzig Jahre später wanderten immer mehr Lagerfirmen in moderne Flachlager ab. Mit Handkarren und Seilwinden ließen sich die Flächen nicht mehr wirtschaftlich betreiben. Zunächst fanden sich aber noch Nachmieter. Mitte der 1990er Jahren wurden 60 Prozent der Flächen für die Lagerung von Orientteppichen genutzt, was Hamburg damals zum größten Teppichhandelszentrum der Welt machte. Seit der Jahrtausendwende ist der Teppichhandel jedoch stark rückläufig, und es werden immer mehr Lagerflächen in Büros und sporadisch auch in Wohnungen umgewandelt. Das geschieht in enger Abstimmung mit der Denkmalpflege, so dass die Speicherstadt auch mit einer neuen Nutzung den strengen Denkmalschutzkriterien entspricht. Sie ist gut gerüstet, um als Welterbe in eine neue Zukunft zu gehen.