Juni 2017
Von Inga Griese
Deutschlands beliebteste Insel hat eine bewegte Vergangenheit – von den Wikingern damals bis zu den Schönen und Reichen heute. Die Faszination für das Eiland ist ungebrochen. Der Mythos lebt.
Stützpunkt der Wikinger
Angefangen hat es mit den Wikingern, die gegen Ende des 8. Jahrhunderts auf Sylt, Föhr und Amrum Stützpunkte und Siedlungen errichteten. In etwa parallel wurden die Friesen im heutigen Nordfriesland sesshaft. Die Wikinger verschwanden wieder, die Friesen und ihre Kenntnisse von Meer und Seefahrt blieben. Als die Niederländer und Engländer gegen Ende des 16. Jahrhunderts den Wal- und Robbenfang im Eismeer als Goldgrube entdeckten, hatten sie sich zunächst auf die seefahrerischen Kenntnisse der Basken verlassen, doch 1633 verbot der französische König ihnen den Dienst auf niederländischen Schiffen. So kamen die Friesen ins Spiel und bald ging fast jeder auch nur halbwegs erwachsene Mann auf Grönland-Tour (man meinte, das Hauptfanggebiet bei Spitzbergen wäre Grönland).
Das „Goldene Zeitalter“ auf den nordfriesischen Inseln begann, brachte Wohlstand aber oft auch Trauer. Es gab viele Tote zu beklagen. Die Biike, die noch immer jeden 22. Februar mit großen Feuern gefeiert wird, erinnert an jene Zeit, sie markierte das Ende des Winters und die Abfahrt der Männer. Die hohen, weithin über die Inseln sichtbaren Feuer loderten zum Geleit und sollten die bösen Geister vertreiben. Doch der Klabautermann ließ sich nicht beeindrucken. So kam es 1744 zu einem besonders tragischen Unglück, als eine Morsumer Mannschaft nur eineinhalb Seemeilen vor Sylt kenterte und sich nur acht von ihnen noch an Land retten konnten. Der letzte Sylter Walfänger schließlich war ein gewisser Peter Eschels, der 1836 mit seinem „Wettrenner“ aufbrach und nur nach größten Mühen wieder in die Heimat zurückkehrte. Die Kapitänshäuser im beschaulichen Keitum erzählen noch heute von der Blütezeit. Die See prägte die Insulaner. Auch die, die nicht draußen waren.
“Biikebrennen”
Das Biikebrennen auf der Insel Sylt hat eine lange Geschichte, die Jahrhunderte zurückreicht. Zum ersten Mal schriftlich erwähnt wurden die nordfriesischen Biiken im 16. Jahrhundert. Die Biiken (friesisch für Feuerzeichen) waren alte germanische Frühlingsfeuer, mit denen der Winter vertrieben werden sollte. Diese waren eng mit dem Petriting am nächsten Tag verknüpft, einer von drei Gerichtstagen im Jahr. Es wurden Verträge geschlossen, Testamente verfasst und bestimmt, wann die Walfänger zur See fahren würden. Die Christianisierung und preußischen Gesetze sorgten dafür, dass die alte Tradition in Vergessenheit geriet. Bis der Sylter Chronist C.P. Hansen im 19. Jahrhundert die Biike wiederbelebte. Sein Ziel war es, den Insulanern ein gemeinsames Fest zur Stärkung des Heimatgefühls und Zusammenhalts zu geben, um den Verlust der Sylter Kultur und friesischen Sprache durch den aufkeimenden Tourismus entgegenzuwirken.
1854: Ein paar Dutzend Badegäste
Sylt war da schon zum mondänen Ferienort geworden, bereits 1854 sollen ein paar Dutzend Badegäste nach Westerland gekommen sein, vor allem Hamburger. Nachdem ein Arzt aus Altona die heilsame Luft gelobt hatte, nahm so mancher die noch beschwerliche, lange, tidenabhängige Anreise per Kutsche und Fähre in Kauf. Die Überfahrt, in den 1860er Jahren auch per Dampfschiff, endete im Hafen von Munkmarsch, von dort ging es mit der Inselbahn weiter. Das änderte sich erst, als 1927 der Hindenburgdamm für den Eisenbahnbetrieb eröffnet wurde. Bis heute die lukrativste Strecke der Bahn.
Das untergegangene Dorf
Man ist so frei auf Sylt. Selbst der Sand. Wenn man die Insel hinauf nach Norden fährt, liegt linkerhand die große Wanderdüne. In winzigen Verwehungen nähert sie sich der Straße. Aber sie nähert sich. Will offenbar zum Watt rüber. Man kann sie nicht aufhalten. Die Rantumer könnten davon erzählen. Vom „untergegangenen Dorf“, wie es lange hieß. Denn im Laufe seiner Geschichte ist der kleine Ort am schmalen Punkt im Süden der Insel schon mehrfach verschwunden, von katastrophalen Sturmfluten vernichtet, verschlungen von Wanderdünen.
1463 erstmals urkundlich erwähnt, und da hatte die Siedlung 30 Jahre zuvor in der verheerenden „Allerheiligen-Flut“ bereits die meisten Bewohner und seine Kirche verloren, galten die Rantumer zunächst als die wohlhabendsten Siedler auf Sylt, denn zwischen dem ehemaligen Riff und dem Geestkern lag fruchtbares Marschland. Doch immer wieder mussten sie sogar ihre Gotteshäuser abreißen, weil unaufhaltsame, wandernde Dünen über sie herfielen.
Rüm hart – klaar kiming
Rüm hart – klaar kiming, das ist der Wahlspruch der Friesen und bedeutet “Weites Herz – klarer Horizont”. Die Kimme ist bei den Seefahrern die Linie zwischen Meer und Himmel. Zeichnet die Kimme eine klare Linie, ist beständiges Wetter in Aussicht und eine Schiffsreise wird gut. In jedem Garten gibt es einen Fahnenmast, ist die Fahne hochgezogen, sind die Bewohner zuhause.
Westerländer Spekulanten
Überhaupt musste das Dorf im Laufe seiner Geschichte mindestens dreimal verlegt werden. 1819 wurde das letzte Haus des alten Rantum verkauft und zwei Jahre später schließlich abgerissen, 1903 war die Siedlung auf fünf Häuser geschrumpft, den Familien ging es gleichwohl gut, hatten sie doch das verlassene Land drumherum zwischen Puan Klent und Westerland in Besitz genommen und kassierten gute Pacht für Weide und Jagd. Vier dieser Familien verkauften ihren Grundbesitz nach dem Ersten Weltkrieg an Westerländer Spekulanten, nur Familie Nissen behielt klug ihre 40 Hektar. Bis 1947 bildeten der Ort und das ganz südliche Hörnum eine Gemeinde, dann machte Rantum sich selbständig und mit seiner Bauvorschrift für Reetdachdächer beliebt bei Feriengästen. 1973 durfte es sich Nordseebad nennen. Voraussetzung war unter anderem eine gewisse Länge Strand, der wiederum in Strandabschnitte eingeteilt war, und zu jedem Abschnitt gehörten ein Parkplatz, Strandkörbe, eine Toilette und eine kleine Strandversorgung. Die exotischen Namen „Sansibar“ und „Samoa“ waren in der Vorschrift nicht enthalten. Woher sie kommen, weiß bis heute keiner genau. Aber die Friesen waren ja immer auch Seefahrer, hatten manches gesehen, vieles gehört. Auch Märchen. Sansibar gehörte nie zum deutschen Kolonialbesitz und Samoa schon längst nicht mehr.
Ein Jahr später, 1974 kam der Schwabe Herbert Seckler auf die Insel. Dass er einmal das berühmteste Lokal der Insel führen würde, stand damals nirgends geschrieben. Er folgte dem Rat eines Steuerberaters, der das Objekt an der Hand hatte, verschuldete sich über beide Schlitzohren und kaufte die Strandbude am Abschnitt „Sansibar“ für 250 000 Mark. Ein Vermögen. Nur für die Bude. Schaufeln, Bratwurst, Erbsensuppe, Strandkörbe. Ohne Grundstück. Das kam später hinzu, als die Bundesrepublik Anfang der 1980er-Jahre viele Liegenschaften verkaufte.
“Es ist zwar etwas teurer Dafür ist man unter sich Und ich weiß jeder Zweite hier Ist genauso blöd wie ich.” (Westerland – Die Ärzte)
Westerland
Bereits 1855 wurde das Nordseebad Westerland gegründet. Auch am Strand fand ein reges gesellschaftliches Leben statt. Die ersten Strandkörbe als idealer Windschutz wurden etwa 1882 gebaut. Bis heute prägen sie das Bild an der Westseite der Insel, inzwischen als Zweisitzer und blau-weiß bezogen.
Anschlag auf den “Klenderhof”
Mitte der 1970er Jahre beherrschten Terrorismus und Ölkrise die Themen der Bundesrepublik, aber das trübte die Sylter Ferienlaune kaum. Es gab einen Anschlag auf das Gästehaus von Axel Springer, den berühmten „Klenderhof“, aber darüber hinaus blieb die Sylter Idylle verschont. Man könnte meinen, so wie das Wasser im Watt bei Ebbe plötzlich versickert, so schluckt die Insel auch weniger rühmliche Erinnerungen. Der Toten wird gedacht, aber Goebels am Strand, Sympathisanten der Nazizeit, der Ausbau der Insel zu militärischen Festungen im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg, auch Ulrike Meinhoff später mit ihren Freunden am Strand, bestimmen nicht das heutige Sein. Nach Ebbe kommt Flut und spült über alles hinweg. Die wirkliche Bedrohung kommt vom Meer. Andere hatte die Insel gerade noch abwenden können. Von den 50er- bis in die 70er-Jahre, dem „Betonzeitalter“, war im Namen des Fortschritts so manche Bausünde genehmigt worden, Westerland mit seinen Hochhäusern als „Fördertürme des Tourismus” gelobt. Den größten Irrsinn plante 1971 ein Bauunternehmer aus Stuttgart. Er wollte am Westerländer Strand eine 28 Stockwerke hohe Bettenburg bauen. Die Stadt stimmte sogar zu. Doch die Landesregierung stoppte das Vorhaben nach massiven Bürgerprotesten. „Atlantis“ ging unter, bevor es überhaupt stand.
Auch das Angebot eines Unternehmers, Kampen ein Schwimmbad zu bauen, wenn das Dorf ihm 40 Eigentumswohnungen genehmigt, war vom Tisch. Ausgerechnet Kampen! Wo die Ortsgestaltungssatzung, die zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts definiert wurde, mehr zählt als die zehn Gebote und den Wohlstand des Ortes mit den höchsten Immobilienpreisen des Landes sichert. Wo sechs Millionen Euro für eine Haushälfte und mehr als 20 für ein Friesenhaus mit Wasserblick gezahlt werden, wird auch die Fläche unter der Dachschräge zur Quadratmeterzahl hinzugezählt, man nennt das „Sylter Maß“.
Der Sylter Lifestyle
In den 60er Jahren fotografierte Robert Lebeck die Frau mit Pudel im Cabrio in der Kurhausstraße. Im Hintergrund ist die Heide zu sehen, die bis heute unter Naturschutz steht.
Unten ohne an der “Buhne 16”
In den 70ern war das Leben noch frei, man durfte auch noch grillen und Burgen bauen, die Häuserkultur kam erst später, man wohnte in Pensionen mit fließend Wasser und ohne Waschmaschine, viele Straßen in Kampen waren noch gar nicht asphaltiert, es gab noch Schlachter, Bäcker und das Milchgeschäft, wo heute Juweliere und Luxusboutiquen ihre Waren anbieten.
An Buhne 16 saßen all die Schönen und Prominenten, gern in FFK (der Klassiker: Obenrum Norwegerpulli gegen Kälte, unten herum en nature), auch das ein Teil der großen Freiheitsbewegung, die schon immer die Insel ausmachte. Bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren hieß es, bei abendlichen Zusammenkünften von Künstlern, Tänzern und Intellektuellen werde „viel Rotwein und Champagner getrunken.“ Der berühmt gewordene Eintrag von Thomas Mann in das Gästebuch von „Haus Kliffende“ am Kampener Strand ‚Hier habe ich tief gelebt’ bezieht sich auf die erholsame Zeit, die Kraft von Strand, Horizont und Wind, aber man kann davon ausgehen, dass unterschwellig das Glück, Homosexualität hier nicht verstecken zu müssen, mitklang.
Schon in den 1930er-Jahren waren auch die jungen Hamburger gen Norden gereist, um unkritisiert nach ihrem Sound zu feiern und zu tanzen. Auf Sylt ging das immer. Auch die jahrzehntelange Verbindung der Verleger John Jahr und Axel Springer nahm hier ihren Anfang. Mit einer von vielen augenzwinkernden Anekdoten, die von John Jahr überliefert ist: „Unsere Freundschaft begann 1933 auf Sylt. Axel Springer sprach eine junge Frau an, die aber leider verheiratet war – mit mir.“
“Hier habe ich tief gelebt.”
Der berühmt gewordene Eintrag von Thomas Mann in das Gästebuch von „Haus Kliffende“ am Kampener Strand bezieht sich auf die erholsame Zeit, die Kraft von Strand, Horizont und Wind, aber man kann davon ausgehen, dass unterschwellig das Glück, Homosexualität hier nicht verstecken zu müssen, mitklang.
“Landebahn für Erosbummler”
Nach dem Krieg wurde Kampen dann zum berühmtesten Dorf der Bundesrepublik. Maler, Bildhauer, Industrielle, Chefredakteure, Schauspieler, Banker, Sänger, Politiker, Playboys (echte und Möchtegerns), Regisseure, Intendanten, Schriftsteller, Verleger – in Kampen sah man sie alle, naturverbunden und lebenslustig. Und sie zogen die „Normalen“ nach auf die Insel. Hier durften Glück und Übermut gelebt werden. Die Les Humphries Singers schmetterten „Mexicoooooo“ am Strand, man durfte noch durch die Dünen laufen, oder dort in der heißen Sonne braten (braune Haut war der Ausweis von gutem Leben), es gab noch kein Aids, dafür freche Parties mit Hummerrennen und viele natürlich schöne Frauen, man lebte ungezwungen, ging barfuss vom Strand ins „Gogärtchen“, eine Institution seit 1951, Mick und Muck Flick fuhren Wasserski am Ellenbogen, es gab tolle Feste, die sonst so zurückhaltenden Hamburger gaben den Ton an. Wie die Clique um Bübchen Pünjer, die das „Pony“ mitbegründet hatten, weil sie einen Ort zum Tanzen wollten. Jeder brachte etwas für die Einrichtung mit. Gebi Götsch, der smarte Skilehrer und seine schöne Frau Renate, die strengste aller Türsteher, begründeten die Legende des „Pony“. Der Kurdirektor von Sylt Ost warb mit dem Slogan: „In Kampen können Sie feiern, in Sylt-Ost ruhig schlafen.“
TIPP
Thomas Henning. Sylt. 112 Seiten mit ca. 90 Farbabbildungen Junius Verlag, Hamburg, 19,90 Euro ISBN 978-3.88506-786-3