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Boomtown Ottensen

August 2016
Von Holmer Stahncke

Die über 700-jährige Geschichte von Ottensen ist geprägt von den Auseinandersetzungen mit dem mächtigen Nachbarn Altona. Wie Hamburgs Ottensen von der „Mottenburg“ und dem „sterbenden Stadtteil“ zur heutigen „Boomtown“ wurde.

Entwicklung im Schatten Altonas 

Als Ottensen 1310 erstmals urkundlich erwähnt wurde, war es noch ein kleines Bauerndorf in der Grafschaft Pinneberg. Für die Landesherren, die Grafen von Schauenburg, waren solche Dörfer in erster Linie finanzielle Verfügungsmasse, die sie bei Bedarf verpfändeten. Sie waren stets knapp bei Kasse und lebten lieber auf Pump, als sich in ihrer Haushaltung einzuschränken. Doch dann entdeckten die Grafen einen neuen lukrativen Einnahmezweig – die „Toleranz“. Sie nahmen mittellose Handwerker und Glaubensflüchtlinge in Altona und Ottensen auf und ließen sie dafür zahlen. Beide Dörfer waren wegen ihrer Nähe zum Hamburger Markt für Zuwanderer ausgesprochen attraktiv. Doch Altona lag näher an der großen Stadt und wuchs deshalb schneller als Ottensen. 1664 erhielt es vom dänischen König, dem neuen Landesherrn, das Stadtrecht. Ausgestattet mit Privilegien, entwickelte es sich zu einem bedeutenden Manufakturstandort mit großen Kaufmannshäusern und einer eigenen Handelsflotte, während Ottensen ein Handwerker- und Bauerndorf blieb.

Auf dem Weg vom Dorf zur Stadt 

Das Handwerk war eine solide Basis für die spätere Entwicklung. 1790 folgte mit der „Entkopplung“, einer Flurbereinigung, ein wichtiger Schritt in die Zukunft. Gemeindeflächen wurden zusammengelegt und einzelnen Bauern zugeteilt. Grund und Boden wurde zur Handelsware. Am Elbufer kauften Hamburger Kaufleute Bauernland und ließen sich hier Landsitze bauen. In Ottensen wurden Grundstücke erst mit der Industrialisierung zur begehrten Ware. Und die begann, nachdem die Dänen 1852 die Zollgrenze neu zogen und Altona von seinem Hinterland Schleswig-Holstein abschnitten. Altona blieb eine Freihandelsstadt, was gut für den Überseehandel war, nicht aber für Fabrikanten, die für den schleswig-holsteinischen Markt produzierten. Immer mehr siedelten nach Ottensen über. Ottensen traf diese Entwicklung vollkommen unvorbereitet. Es gab keine Verwaltung, die sie mit ordnender Hand im Interesse des Gemeinwesens lenken konnte. Die zukünftige Stadtgestalt wurde von den Bodenspekulanten bestimmt. Sie kauften Flächen auf, zogen neue Wege, selten gepflastert und stets unbeleuchtet, und siedelten Betriebe an. In dem Dorf mit seinen einzeln stehenden Häusern und Gehöften wurden jetzt Straßenzüge mit geschlossenen Häuserfronten gebaut. Die gab es bis dahin nur in der Holländischen Reihe, wo calvinistische Glaubensflüchtlinge ihre Häuser nach holländischem Vorbild gebaut hatten.

Ottensen als Idylle 1830 – die Christianskirche mit dem Grab des Dichters Kloppstock davor, Gemälde von L.M.A. Brammer, Sammlung Altonaer Museum
Ottensen als Idylle 2016 – die Christianskirche steht immer noch und Kloppstocks Grab wird auch noch gern besucht.

Rasante Entwicklung um 1860 

Das neue Ottensen hatte wenig mit dem Ottensen unserer Tage gemeinsam. Man baute kleine schmucklose Häuser, ebenerdige Katen, zweistöckige, vereinzelt dreistöckiges Gebäude. Die imposanten Bauten aus der Kaiserzeit, die heutzutage den Reiz Ottensens ausmachen, entstanden erst seit den 1890er-Jahren. Auch die ersten Fabriken waren bescheiden, meist waren es größere Werkstätten. Es sollte noch eine Generation dauern, bis die Fabriken der Eisenindustrie das Bild Ottensens prägten. Doch noch hatte die Industrialisierung, deren Symbol die Dampfmaschine war, Ottensen nicht erreicht. Dampfmaschinen brauchten Wasser, und Wasser war knapp. Es wurde aus Brunnen geschöpft, und es war hart – also unbrauchbar für Kesselanlagen. Dampfmaschinen konnten erst nach 1859 in großem Stil eingesetzt werden, dem Jahr, in dem Altona sein Wasserwerk in Betrieb nahm. Es lieferte Elbwasser aus Blankenese – auch nach Ottensen.

Je stärker die Industrie wuchs, desto mehr rächten sich die städtebaulichen Sünden aus den Anfangsjahren. Damals war niemandem in den Sinn gekommen, eine zu enge Bebauung der Hinterhöfe mit Wohnhäusern, Werkstätten, Schuppen und Ställen zu verbieten. Jetzt waren Wohnhäuser und Fabriken heillos ineinander verwoben – wobei viele Fabrikbesitzer ihre Interessen vor denen der Gemeinschaft stellten. So fand der Maschinenbauer Menck & Hambrock nichts dabei, direkt neben der Volksschule eine Kesselschmiede zu bauen. Die Stadtverwaltung ließ ihn gewähren. Erst die preußischen Behörden in Schleswig ordneten den Abriss der Schmiede an.

Ottensen – die “Mottenburg”

Ab den 1850er Jahren entwickelte sich eine Fabrikation, deren Protagonisten die Zigarren-, Glas-, Fisch- und Eisenindustrie waren. Daneben siedelten sich Fabriken an, die Papier, Holz und Stein verarbeiten, Lebensmittel und chemische Produkte und anderes mehr herstellten. Viele Arbeiter in der Zigarren- und Glasindustrie erkrankten damals an TBC und steckten ihre Familien in den engen, feuchten Wohnungen an. Sie bekamen die „Motten“, die ihre Lungen zerfraßen – was Ottensen den Namen „Mottenburg“ einbrachte. Straßennamen wie die “Mottenburger Twiete” oder das Café “Von der Motte” zeugen noch heute davon.

So fand der Maschinenbauer Menck & Hambrock nichts dabei, direkt neben der Volksschule eine Kesselschmiede zu bauen. Die Stadtverwaltung ließ ihn gewähren. Erst die preußischen Behörden in Schleswig ordneten den Abriss der Schmiede an.

Hatte sich Ottensen schon unter der dänischen Verwaltung rasant entwickelt – 1840 hatte es 2400 Einwohner, 1864 waren es 7000 – bekam es, als es 1867 preußisch wurde, noch einmal einen Schub. Durch den Beitritt zum Zollvereinsgebiet erweiterte sich der Absatzmarkt deutlich; außerdem beharrte Altona auf seinem Freihandelsstatus, was einen weiteren Exodus Altonaer Betriebe nach Ottensen  auslöste. Bereits 1864 war Neumühlen eingemeindet worden und Ottensen hatte einen Zugang zur Elbe erhalten. Vier Jahre später erhob Berlin das Dorf Ottensen-Neumühlen zur Ortschaft mit „städtischer Verfassung“ und eigener Verwaltung. Der Wechsel von der dänischen zur preußischen Herrschaft hatte sich bezahlt gemacht.


Die Zeisehallen: Im ehemaligen Fabrikgebäude der Metallgießerei Theodor Zeise GmbH & Co. wurden bis 1979 Schiffpropeller hergestellt. Nach dem Konkurs des Unternehmens standen die Hallen lange leer. Erst durch das Engagement der Anwohner wurden sie unter Denkmalschutz gestellt und saniert, so dass ab 1993 eine Art Medienfabrik darin entstehen konnte. Die langgestreckte Werkhalle wurde zur Passage umgebaut, wo u. a. das Programmkino Zeise und das Restaurant Eisenstein ansässig sind.

Politische Rangeleien 

Doch Ottensen musste auch Kröten schlucken. Es kam nicht zum Landkreis Pinneberg, sondern zum neuen Stadtkreis Altona. Altona erhielt die Schulaufsicht, und fortan galt das strengere Altonaer Baurecht. Das war bitter, denn beide Kommunen hegten und pflegten eine Abneigung, wie sie benachbarte Kommunen mitunter entwickeln. Besonders giftig agierte Ottensen, das zehn Jahre lang auf politischem und juristischem Weg eine für Altona lebenswichtige Hafenerweiterung nach Neumühlen verzögerte, bis Berlin endlich ein Machtwort zugunsten Altonas sprach.

Missgunst bestimmte nicht nur das Verhältnis zu Altona, sondern auch das der Ottenser untereinander. Die frisch gebackenen Lokalpolitiker im neuen Orts-Kollegium gehörten dem Bürgerverein und dem Communalverein an. Anstatt ihre Ortschaft voranzubringen, rieben sich in den nächsten Jahren in kleinlichen Ränkespielen auf. Tonangebend in der politischen Auseinandersetzung waren nicht die Fabrikanten, sondern Grund- und Hofbesitzer und Handwerksmeister.

Daran änderte sich auch nichts, als Ottensen 1871 das Stadtrecht erhielt. 18 Jahre lang blieb Ottensen Stadt – eine wenig rühmliche Episode der Ottenser Geschichte. Die verfeindeten Politiker brachten nicht einmal den Bau eines eigenen Rathauses zustande. Die Verwaltung war in der gemieteten zweiten Etage eines Hauses an der Flottbeker Straße 14 (Elbchaussee) untergebracht. Im Zimmer 7 war das Büro des Bürgermeisters. Doch der musste erst einmal gefunden werden. Es dauerte vier Jahre, bis man sich einigen konnte. Erstaunlicherweise kam mit Matthias Bleicken ein liberaler Anwalt und Journalist in dieses Amt, der für ein Zusammengehen von Altona und Ottensen plädierte – eigentlich sogar für einen Zusammenschluss.

Der Boykott der Fabriken

Die Idee an sich war nicht neu, sie war schon 1865 diskutiert und verworfen worden. Damals boykottierten Ottensens Fabrikanten das Vorhaben. Und Altona wollte „das versumpfte Dorf “ nicht übernehmen. Doch in den 1880er-Jahren stellte sich die Frage erneut. Die Bevölkerung wuchs unaufhaltsam. Viele Arbeiter lebten in zum Teil unzumutbaren Verhältnissen. Längst hatte die Arbeiterbewegung ein festes Standbein in Ottensen, und immer wieder kam es zu Streiks. Bürgermeister Bleicken sah schwarz in die Zukunft, wenn die Politik weiterhin tatenlos blieb. Ottensen stehe am Scheideweg.

Die Alternative laute „Arbeiterstadt“ oder „Proletarierstadt mit revolutionärem Potenzial“. Ottensen sei mit diesem Problem vollkommen überfordert; es könne nur gemeinsam von Altona und Ottensen gelöst werden. Lange zierte sich Altona, das verschuldete Ottensen zu übernehmen und Unsummen in dessen Infrastruktur zu investieren. Es gab kein Krankenhaus, kein Gymnasium, marode Straßen, eine zu schwache Polizei und so weiter. Aber letztlich überwogen für Altona die Vorteile eines Zusammenschlusses. Denn in Ottensen gab es die unbebaute Feldmark, auf der industrienahe Arbeiterquartiere und bürgerliche Villenviertel gebaut werden konnten. 1889 wurde Ottensen mit wohlwollender Zustimmung aus Berlin eingemeindet. Es war jetzt keine Stadt mehr, sondern ein Stadtteil Altonas.

Ottensen hat sich neu erfunden 

Unter der Aufsicht des Altonaer Bauamtes gab es einen Bauboom in Ottensen. Die hohen Wohnhäuser mit ihren verschnörkelten Fassaden, die heute das Stadtbild prägen, wurden damals errichtet. Einen ähnlichen Bauboom erlebte Ottensen erst wieder in den 1920er-Jahren unter dem Bausenator Gustav Oelsner, der moderne Arbeiterwohnungen bauen ließ, um die Wohnungsnot endlich in den Griff zu bekommen.

Die Erfolgsgeschichte Ottenser Industrie neigte sich schon im frühen 20. Jahrhundert mit dem Niedergang der Glas- und Zigarrenfabriken dem Ende entgegen. In den 1960er-Jahren folgte die Maschinen- und Eisenindustrie. Immer mehr Betriebe gaben auf. Der „sterbende Stadtteil“ rief die Stadtplaner auf den Plan, die große Teile Ottensens abreißen wollten, um hier die Bürostadt City-West samt einem mehrspurigen Autobahnzubringer zu bauen. Protestaktionen der Ottenser, die die öffentliche Meinung auf ihrer Seite hatte, verhinderte letztlich die Umsetzung dieser Pläne. Viele der alten Fabriken wurden abgerissen, andere zu Kultureinrichtungen, Büros und Lofts umgewandelt. Ottensen hatte sich neu erfunden.

Holmer Stahncke ist Autor des Buches „Altona. Geschichte einer Stadt“, Ellert & Richter Verlag 2014, ISBN 978-3-8319-0560-7, 19,95 Euro

Weitere Information zur Geschichte von Ottensen sind über das 1980 als erste Hamburger Geschichtswerkstatt gegründete Stadtteilarchiv Ottensen erhältlich. www.stadtteilarchiv-ottensen.de