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Souvenir of Egypt

April 2020
Von Franziska Schüßler

Was ein Postkartenalbum uns über das Ägyptenbild vor 100 Jahren erzählen kann

Teilnehmende einer ägyptischen Reisegruppe zeichneten gegen Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts ihre Beobachtungen während einer Europareise auf. Sie bemerkten das Bedürfnis der Europäer, Objekte aus aller Welt zu sammeln und sie chronologisch und thematisch geordnet in Museen auszustellen, im Theater ihre eigene Geschichte zu präsentieren und in Gärten und Zoos die Flora und Fauna nach Herkunftsländern geordnet zu zeigen. Sie besuchten während ihrer Reise verschiedene Ausstellungen, unter anderem auch eine Weltausstellung, und mussten feststellen, wie dort ein Klischee ihrer Heimat geprägt von Eseln und Dreck zur Schau gestellt wurde, in dem sie nicht selten zu unfreiwilligen Komparsen oder Hauptattraktionen wurden. Sie erkannten in diesen Phänomenen des Sammelns und Ausstellens eine symbolische Repräsentation der Welt. [Mitchell, Timothy (1991), Colonizing Egypt, Berkley, S. 1-7.] Diese ägyptische Perspektive auf die Sammelleidenschaft der Europäer gibt uns Einblicke in die damals in Europa weit verbreitete Praxis die Welt zu ordnen und zu kategorisieren, die sich auch auf Postkarten erstreckte. Im Privaten legten sich um die Jahrhundertwende viele Menschen eine vermeintlich vollständige Sammlung von Länderdarstellungen in Form von Ansichtskarten an. Hier wird das Postkartenalbum von Maurice Boucoiran beispielhaft vorgestellt, welches in der Sammlung des Altonaer Museum zu finden ist.

Das Album des Konsuls 

Als der spätere französische Konsul Maurice Boucoiran begann, sein Postkartenalbum „Souvenir of Egypt“ anzulegen, befand er sich gerade am Beginn seiner diplomatischen Karriere. Ab 1906 nahm er seine ersten Ämter in Alexandria und Genua wahr, bevor er 1912 Konsul in Äthiopien wurde. Er sammelte nicht nur Postkarten, sondern auch Münzen, Siegelringe und vieles anderes. Ein Teil seiner äthiopischen Sammlung wurde mittlerweile an Äthiopien zurückgegeben und kann nun dort weiter beforscht werden.

Sein Postkartensammelalbum fand Mitte der 1960er Jahre über einige Umwege den Weg ins Altonaer Museum.

Die meisten der 95 Karten im Album sind nicht verschickt worden (gelaufen). Vermutlich hat er sie als Reiseerinnerungen selbst gekauft, immerhin war es damals noch nicht möglich an jedem Ort schnell ein Selfie mit dem Smartphone zu machen. Die beiden gelaufen Karten stammen von Freunden, die ihm kurze Nachrichten zu ihrem Reiseverlauf im Jahr 1911 schickten. Die Karten wurden ungefähr in den Jahren 1904 bis 1915 herausgegeben. Das Album vermittelt uns ein Bild davon, wie europäische Besucher*innen Ägypten damals wahrnahmen, wie sie versuchten, das Land und die dortigen Praktiken zu kategorisieren. Der US-amerikanisch-palästinesische Literaturwissenschaftler Edward Said kennzeichnete dieses Phänomen des Erschaffens des sog. Osten durch den sog. Westen 1978 in seinem gleichnamigen Werk als “Orientalismus”. Aus heutiger Perspektive lassen sich die Motive, die sich im Album von Maurice Boucoiran finden, in vier Gruppen aufteilen: Kunstpostkarten, Straßenszenen, Menschen und Altes Ägypten. Allerdings sind sie im Album nicht nach diesen Gruppen sortiert, sondern ohne erkennbares Prinzip eingelegt.

Souvenir of Egypt, Foto: Michaela Hegenbarth, SHMH – Altonaer Museum Inv. Nr.:1967-692_2
Souvenir of Egypt, Foto: Michaela Hegenbarth, SHMH – Altonaer Museum Inv. Nr.:1967-692_4

Altes Ägypten – Ägyptomanie 

Um die Jahrhundertwende herrschte in Europa und den USA eine Faszination für das Alte Ägypten, die sogenannte Ägyptomanie. Das Interesse für das alte Reich kannte kaum Grenzen, es wurden Mumien, Kunstgegenstände und sonstige archäologische Funde und Gebeine gehandelt und nach Europa und die USA verschifft. Dadurch ist ein großer Schaden für die archäologische Forschung und die ägyptische Kultur entstanden, da die Artefakte aus ihrem Zusammenhang gerissen wurden und größtenteils weder Herkunft noch Bedeutung ermittelt werden können. Zudem gingen die meisten an private Sammler und sind somit für die Forschung und auch für Ägypten verloren. Im Zuge der durch den postkolonialen internationalen Diskurs angestoßenen Rückgabe von Sammlungsgut finden zumindest einige dieser Stücke den Weg zurück in ihre Ursprungsländer. Postkarten stellten eine günstigere und auch weniger invasive Art dar, sich ein Stück Ägypten nach Hause zu holen. Sie konnten zudem gesammelt werden, auch ohne das Land besucht zu haben. Andererseits konnte auf diese Weise aber auch ein Bild eines Landes vermittelt werden, das nicht der Realität entsprach. Die Postkarten mit Ansichten von Tempel- und Pyramidenreliefs sind spärlich oder inkorrekt beschriftet. Die Forschung stand damals noch am Anfang und es wurden kaum Ägypter*innen zu etwaigen Kenntnissen der Fundstätten oder deren Bedeutung befragt. Auf vielen der Motive mit altägyptischen Bauwerken posierten “Einheimische” im Vordergrund, oft mit Kamelen oder sonstigen als typisch angesehenen Gegenständen und Merkmalen. Dies diente einerseits dem Größenvergleich, sollte sicher aber auch eine Verbindung zwischen dem Alten Ägypten und dem Jetzt herstellen. Dennoch wirken die abgebildeten Personen losgelöst und “out of place”. So zeigen die Postkarten einerseits eine Bewunderung für die Bauten der alten Ägypter, aber auch eine deutliche Herabsetzung der aktuellen ägyptischen Lebensweise.

Kunstpostkarten und das Deutsche Haus in Theben 

Leider sind die individuellen Geschichten, der auf den Karten abgebildeten Menschen nicht überliefert. Wir können uns nur noch den Geschichten ihrer Betrachter*innen annähern, den Fotograf*innen, Maler*innen und Postkartenverleger*innen. Die Ägyptomanie zog auch zahlreiche Künstler*innen und Weltenbummler*innen nach Ägypten. 1904 wurde in Theben auf Initiative des deutschen Architekten und sogenannten Archäologen Ludwig Borchardt, das “Deutsche Haus” errichtet, in dem namhafte Künstler*innen unterkamen, sich gegenseitig aushalfen und während ihrer Ägyptenreise die für sie interessanten Bilder einfingen – sozusagen eine historische Künstler*innen-WG in kolonialen Verhältnissen.

Straßenszenen 

Viele der Karten in unserem Album zeigen Straßenszenen in Kairo und Alexandria. Es ist kein Zufall, dass viele dieser Bilder – trotz unterschiedlicher Motive – sehr ähnlich aussehen. Alle Karten in unserem Album sind von Europäer*innen herausgegeben worden. Europäische Fotograf*innen und Postkartenverleger*innen suchten oft nach einer bestimmten Perspektive, nach einem Blickwinkel, der alles einzufangen scheint, ein Blickwinkel, der es schafft, ein ganzes Land in all seinen Facetten abzubilden. Ein europäischer Reisender beschrieb, wie er mit seiner Kamera durch die ganze Stadt lief und keinen solchen Blickwinkel finden konnte, bis er schließlich den Rand der Stadt erreicht hatte. Es wurden also gewisse Teilabschnitte eingefangen.

Dabei ist in der Darstellung ein deutlicher Unterschied zwischen den neu entstanden, im europäischen Stil erbauten Vierteln und der historisch gewachsenen Innenstadt zu erkennen. Die Motive aus den europäisch anmutenden Vierteln zeigen weite, offene Straßen mit Gebäuden im französischen Architekturstil und teilweise englischen oder französischen Beschriftungen. Es gibt eine für europäische Betrachtende klar erkennbare Ordnung, die Straßen sind Pferdekutschen vorbehalten, die Bürgersteige für Fußgänger, und jedes Haus hat eine bestimmte Aufgabe, die sich hinter strengen, einheitlichen Fassaden verbirgt. Auf den Straßen sind einige europäisch gekleidete Menschen zu sehen.

Im Gegensatz dazu steht die Darstellung von engen Gassen der historischen Viertel, in denen  zahlreiche Menschen zu sehen sind und wo Handel, Transport mit Eseln oder Kamelen, Alltagsleben sowie Essen und Trinken auf engstem Raum miteinander verschmolzen dargestellt werden. Eingebettet sind diese Szenen in eine „typisch ägyptische“ architektonische Kulisse, oft mit dem Minarett einer Moschee im Fluchtpunkt. Der kosmopolitische Charakter des ägyptischen Alltags zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wird dabei nicht eingefangen.

Essen und Trinken 

Im Gegensatz zur klaren Trennung von Innen und Außen in den abgebildeten europäisch geprägten Vierteln sind die “den Ägypter:innen“ zugewiesenen Szenen geprägt von offenen Gebäuden oder auf offener Straße stattfindendem Handel. Eine ganz besondere Faszination auf europäische Reisende übte offenbar der Verkauf von Speisen und Getränken auf Märkten, Straßen und in Kaffeehäusern aus, der auf vielen Postkarten abgebildet wird.


Postkartenverleger: Lichtenstein & Harari 

Neben Abenteuersuchenden, frühen Wissen- und Kunstschaffenden zog es auch Geschäftsleute nach Ägypten. Diese profitierten von günstigen Einfuhrzöllen für zum Beispiel Druckerpressen. Alle Verleger*innen der Postkarten in unserem Album – und auch der eine Fotograf dessen Namen wir kennen, Andreas Daniel Reiser – waren Europäer*innen, die entweder in Ägypten ein Geschäft gründeten oder die Karten von Europa aus verlegten. Über ein Drittel der in unserem Album vertretenen Postkarten stammen vom Verlagshaus Lichtenstern & Harari, daher soll hier stellvertretend für viele europäische Verleger*innen in Ägypten und anderen Ländern ein kurzer Blick auf dieses Unternehmen geworfen werden. Joseph Max Lichtenstern war ein Wiener Geschäftsmann, der 1897 in Ägypten ansässig wurde. Er verlegte von 1902 bis 1912 in Kairo gemeinsam mit David Harari Postkarten und andere Drucksachen. Über David Harari ist heute leider nichts mehr bekannt, die wenigen Informationen über ihn widersprechen sich. Viele, zumeist einheimische, Fotograf*innen waren bei ihnen angestellt, und versuchten Bilder Ägyptens einzufangen, die für europäische Augen einen faszinierenden und Neugier erzeugenden Eindruck erwecken sollten. Diese reisten auch zu aktuellen Ereignissen, um diese auf Postkarten zu verewigen, so z.B. 1906 zu einem gesunkenen Schiff im Suez-Kanal.


“Typen und Szenen” 

Ein weiteres beliebtes Motiv, das der Kategorisierung diente, waren Bilder unter dem Titel “Types and Scenes”, Bilder von Menschen, die bestimmten Bevölkerungsgruppen zugeordnet wurden und damit stellvertretend für alle Menschen dieser Gruppe stehen sollten. Derart ethnisierende Motive waren in Zeiten des Kolonialismus zur Darstellung der Bewohner*innen vieler Länder üblich, ähnliche Postkarten gibt es aus anderen Regionen Afrikas, der Karibik, Asien, Australien und den Amerikas. Der überwiegende Teil der Bilder in unserem Album gehört dieser Kategorie an, hier kann nur eine kleine Auswahl vorgestellt werden. Sie zeigen entweder Menschen bei ihren alltäglichen Handlungen oder es handelt sich um gestellte Porträts.

Das Album enthält zudem eine Reihe von Akten, die wir aus Rücksicht auf die abgebildeten Frauen nicht veröffentlichen. Es ist heute nicht mehr nachvollziehbar, unter welchen Umständen und mit welchem Maß von Freiwilligkeit diese Bilder entstanden sind. Koloniale Bedingungen sind jedoch immer von ungleichen Machverhältnissen gekennzeichnet. Die Aktbilder in Maurice Boucoirans Album sind größtenteils im Studio von Andreas Daniel Reiser entstanden. Auffällig ist, dass die unterschiedlichen Modelle, die verschiedenen Gruppen zugeordnet wurden, die gleiche spärliche Kleidung und denselben Schmuck tragen. Erotisierende Bilder dieser Art, auf denen die Frauen eher als Ware denn als Individuum dargestellt werden, bilden ein typisches Motiv kolonialer Postkarten.

Allerdings sind noch stärker erniedrigende Bilder, wie zum Beispiel aus den afrikanischen Kolonien, hier kaum zu finden. Ein Grund hierfür könnte die Sonderstellung Ägyptens im kolonialen Machtgefüge der damaligen Zeit sein. Ägypten wurde erst 1914 offiziell britisches Protektorat, stand jedoch zuvor schon seit fast 2000 Jahren unter verschiedenen Fremdherrschaften. Zur Zeit der Entstehung der Postkarten war Ägypten offiziell Teil des Osmanischen Reiches, aber in der britischen Einflusszone.

Die Bewunderung für das Alte Ägypten einerseits und die damals vorherrschende Vorstellung einer europäischen Überlegenheit andererseits, machten eine klare Einordnung für europäische Betrachter*innen kompliziert.

Abschließend lässt sich mit Blick auf das Album des Maurice Boucoiran feststellen, dass die darin enthaltenen Postkarten das überwiegend klischeehafte, eurozentristische Bild eines vormodernen Ägyptens transportieren, das nicht selten von einem herablassenden Überlegenheitsgefühl ihrer europäischen Auftraggeber zeugt und beispielhaft für den von E. Said beschriebenen “Orientalismus” steht.

Verwendete Literatur

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