März 2018
Von Matthias Gretzschel
Es beginnt mit einem spontanen Matrosenaufstand gegen eine letzte Schlacht in der Nordsee. Die revoltierende Haltung erreicht erst Kiel, dann Hamburg und führt schließlich zur Abschaffung der Monarchie im gesamten Reich.
Wahnsinn, jetzt noch einmal zu kämpfen! Was sich die Marineführung da in ihren sicheren, bequemen und gut geheizten Konferenzsälen ausgedacht hat, bedeutet für die Soldaten nicht weniger als den Aufbruch in den Untergang. Fassungslos hat die Besatzung des III. Geschwaders am 29. Oktober 1918 den Befehl zum Auslaufen gehört – zur großen Entscheidungsschlacht auf den Schiffen König, Markgraf und Großer Kurfürst gegen die Royal Navy in der südlichen Nordsee. Ein Himmelfahrtskommando, das wieder Tausende Tote fordern wird. Doch diesmal werden sie sich von den Herren Admiralen nicht verheizen lassen.
Erstaunt nehmen die schneidigen Marineoffiziere an Bord der Kriegsschiffe wahr, dass sich die Matrosen ihren Befehlen diesmal widersetzen. Ist das schon Meuterei? Alles Herumbrüllen hilft nicht mehr, auch nicht die Androhung von drakonischen Strafen. Jetzt stehen die Mannschaften zusammen und lassen ihre Vorgesetzten wissen, dass ihr Schiff die Schillig-Reede vor Wilhelmshaven nicht Richtung Nordsee verlassen wird. Die Heizer kündigen an, das Feuer in den Kesseln zu löschen, und die Matrosen weigern sich entschlossen, die Anker zu lichten. Ja, das ist eine Meuterei, muss die Seekriegsleitung erkennen. Sie entschließt sich daraufhin, das III. Geschwader über den heutigen Nord-Ostsee-Kanal, der damals noch des Kaisers Namen trägt, zurück nach Kiel zu verlegen, in den Heimathafen.
Am 31. Oktober bricht der Konvoi Richtung Ostsee auf, was die Matrosen der Marinestation in Kiel per Telegramm mitteilen. Noch ahnt niemand, dass dort in den nächsten Tagen Geschichte geschrieben wird.
Die Nachricht der Meuterer, die damit eine sinnlose Seeschlacht verhindert haben, verbreitet sich in Kiel wie ein Lauffeuer. Sie erreicht nicht nur die Matrosen der dort liegenden Kriegsschiffe, sondern auch die Arbeiter in den Fabriken. Im vierten Kriegsjahr ist die Stimmung gereizt, die Menschen hungern seit Jahren und sind nicht mehr bereit, der Propaganda zu glauben. Aus der Verzweiflung wächst jetzt neuer Mut und die Bereitschaft, sich der Obrigkeit nicht länger zu fügen.
Genug ist genug, sagen sich die Marinesoldaten, die sich mit den Arbeitern verbünden, um den Aufstand zu proben. Nach so viel Hunger und Elend, so viel Leid und Hoffnungslosigkeit gehen sie jetzt auf die Straße, um die alte Macht zu stürzen und endlich Frieden zu erreichen. Sie verlassen ihre Schiffe und Fabriken, sammeln sich auf Straßen und Plätzen, setzen den kaiserlichen Militärgouverneur ab und übernehmen die Macht. Nicht in der Reichshauptstadt Berlin, sondern in der Hafenstadt an der Förde wird das Ende des Wilhelminischen Kaiserreichs eingeleitet – und damit auch das Ende des Krieges. Innerhalb kürzester Zeit ist das im ganzen Reich, ja in ganz Europa, bekannt. Dank der noch relativ neuen Kommunikationsmittel Telegramm und Telefon verbreitet sich die Nachricht vom Kieler Matrosenaufstand innerhalb von Stunden.
Die Revolte erreicht Hamburg
In Hamburg berichten die Zeitungen am 5. November, einem trüben Herbstmontag, von den revoltierenden Matrosen im knapp 100 Kilometer entfernten Kiel. Noch während Bürgermeister Werner von Melle und seine Senatoren mutmaßen, ob der Aufstand der Matrosen nach Hamburg übergreifen wird, erreicht sie die Meldung vom Sympathiestreik der Werftarbeiter bei Blohm & Voss, der Reiherstiegwerft und anderer Werft und Zulieferbetriebe. Geht das schon wieder los?, seufzt einer der Senatoren und erinnert an die Januartage, als Hamburg am Rand eines Bürgerkriegs stand. Mehr als 30.000 verzweifelte Werftarbeiter hatten schon damals spontan die Arbeit verweigert, um das Ende des Krieges zu erzwingen. Sie marschierten in Demonstrationszügen durch die Stadt und trafen sich zu einer Protestveranstaltung im Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof. In einer der Resolutionen wurde die „Herbeiführung eines sofortigen Friedens ohne Annexionen“ verlangt. Die konservative Presse beschimpfte die Streikenden als Vaterlandsverräter und forderte, dass „die Staatsgewalt mit Entschiedenheit durchgreifen“ müsse.
Am Vormittag des 29. Januar klingelte bei Werftbesitzer Hermann Blohm der Fernsprecher. Am Apparat war Adalbert von Falk, stellvertretender kommandierender General in Altona, der Blohm erklärte, dass demnächst Soldaten in seinem Betrieb auftauchen würden. Jetzt muss das Militär eingreifen, um unter allen Umständen die Ordnung aufrechtzuerhalten, teilt er dem Industriellen mit. Doch dazu wird es nicht kommen, obwohl tags darauf schon 30.000 Arbeiter im Streik standen, von denen sich trotz polizeilichen Verbots 8.000 auf dem Heiligengeistfeld zu einer Kundgebung trafen. Da sich die unterschiedlichen politischen Gruppen aber nicht einig waren, bröckelte bereits am 31. Januar die Streikmoral. Die Streikleitung beschloss schließlich den Abbruch, und spätestens am 2. Februar wurde die Arbeit vollständig wieder aufgenommen. „Mit dem heutigen Tag ist das Ganze wie ein vorübergehender Spuk verschwunden“, schrieb der Generalanzeiger für Hamburg-Altona.
Ein vorübergehender Spuk – darauf hoffen auch diesmal die Herren im Rathaus, denen dennoch schwant, dass es diesmal anders sein wird. Und tatsächlich überschlagen sich die Ereignisse. Den ganzen Tag über haben sich die streikenden Arbeiter die Köpfe heiß geredet, haben diskutiert mit Gewerkschaftern, den Mehrheitssozialisten und Vertretern der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschland (USPD), die sich von der zögerlichen und staatstragenden SPD abgespalten hat, haben alle möglichen Forderungen aufgestellt, um sie dann doch wieder zu verwerfen. Die einen raten zur Besonnenheit, andere fordern radikale Aktionen. Schließlich schicken sie 200 Delegierte zu einer Versammlung, die gegen 17 Uhr beginnt. Wieder wird diskutiert, gestritten und schließlich eine Resolution verabschiedet, die aufs Ganze geht: Sofort sollen die Waffen schweigen und Frieden soll geschlossen werden. Der Kaiser muss abdanken, die Monarchie wird abgeschafft. Die Gesellschaft soll grundlegend demokratisiert und alle politischen Gefangenen sofort freigelassen werden.
Massenkundgebung am Besenbinderhof
Für den Abend ist eine Kundgebung im Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof anberaumt. Wer dort hin will, hat Mühe, überhaupt durchzukommen, denn bald drängen sich 6.000 Menschen vor und in dem Haus. Wer hinten steht, kann die Redner kaum hören, aber allen ist klar, worum es jetzt geht. Und als schließlich zu Massenkundgebungen und zum Generalstreik schon für den nächsten Tag aufgerufen wird, kennt der Jubel keine Grenzen. Erstmals haben die Menschen jetzt das Gefühl, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und ihr Schicksal bestimmen zu können.
Während die meisten streikenden Arbeiter nach Hause gehen, macht sich der 20 Jahre alte Maat Friedrich Zeller mit einem Trupp revolutionärer Matrosen und Arbeiter Richtung Hafen auf. Mühelos durchbrechen sie die militärischen Absperrungen und besetzten das im Hafen liegende Wachschiff Freya sowie Torpedoboote und andere Kriegsschiffe. Vor weniger als einem Jahr war Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt unter seinem Kampfnamen Lenin, unter strengster Geheimhaltung in einem verplombten Eisenbahnwaggon quer durch Deutschland Richtung Russland transportiert worden. Was der ebenso skrupellose wie erfolgreiche russische Revolutionschef „als revolutionäre Situation“ definiert hatte, ist nun auch in Hamburg Wirklichkeit geworden: Die Herrscher können nicht mehr wie bisher und die Beherrschten wollen nicht mehr wie bisher.
Im vornehmen Senatsgehege, wo sich am Dienstag, den 6. November, Bürgermeister von Melle mit seinen Senatoren zur Sitzung trifft, herrscht blankes Entsetzen. Was den Herren der Stadtregierung nach und nach gemeldet wird, verschlägt ihnen schlicht den Atem. Am Morgen haben Revolutionäre die Zollwache überwältigt und entwaffnet, um anschließend den Elbtunnel zu besetzen. Aber es kommt noch dicker: Die USPD-Politiker Ferdinand Kalweit, Paul Dittmann, Jacob Rieper und Paul Wagner bilden einen provisorischen Arbeiterrat, der gemeinsam mit dem von Paul Zeller geleiteten Soldatenrat die Macht übernimmt. Man werde, versichern die Räte, die Aufrechterhaltung der Ordnung garantieren. Doch das ist nicht so einfach: In der Kaserne an der Bundesstraße hat es eine wilde Schießerei gegeben, dann haben die Revolutionäre auch dort die Macht übernommen. Auch der Hauptbahnhof ist besetzt und wird von bewaffneten Arbeitern kontrolliert. Schon seit dem späten Vormittag strömen Tausende aufs Heiligengeistfeld, wo es mittags eine Großkund gebung geben soll. 40.000 Menschen haben sich schließlich auf dem weiten Areal versammelt. Per Akklamation wird schließlich der provisorische Arbeiter und Soldatenrat bestätigt, der „den größten Teil der politischen Macht in Hamburg“ übernehmen wird.
Nun bekommen die Senatoren im Rathaus Besuch: Verwegene Männer in schwerer Arbeitsmontur und Marineuniform verschaffen sich Eintritt ins Rathaus und erklären dort den Vertretern des Senats, wer ab jetzt die Macht in Hamburg ausüben wird. Was braut sich hier nur zusammen?, fragen sich die Angehörigen der alten Hamburger Elite, die schon froh sind, dass die Revolutionäre einigermaßen höflich mit ihnen umgehen – und Gott sei Dank anders als die Bolschewiken in Russland, die mit den alten Machthabern normalerweise kurzen Prozess machen. Aber weiß man, was noch kommen wird? Jetzt müssen sich Bürgermeister von Melle und Senator Carl Petersen erst einmal fügen. Artig versichern sie den Revolutionären, dass sich Bürgerschaft und Senat „in den Dienst der neuen Zeit“ stellen werden.
Das normale Leben im Ausnahmezustand
Das alles geschieht ziemlich spontan und folgt keinem genauen Plan, denn dafür gibt es zu viele unterschiedliche Beteiligte. Der wichtigste Akteur ist die USPD, aber auch einige radikale Linke erleben jetzt ihre große Stunde. Die SPD versucht mäßigend einzuwirken, spielt aber mit. Im Großen Arbeiterrat, der am 8. November in Hamburger Betrieben gewählt wird, haben die radikalen Kräfte gegenüber der SPD die Mehrheit. Die wichtigste Persönlichkeit ist ohne Zweifel Heinrich Laufenberg, der am 11. November zum Vorsitzenden des Arbeiter und Soldatenrats der Stadt Hamburg gewählt wird. Der 46Jährige ist kein Proletarier, sondern ein Intellektueller. Der gebürtige Rheinländer hat Philosophie und Volkswirtschaft studiert und promovierte über ein kirchengeschichtliches Thema. Nachdem er zunächst Funktionär der katholischen Zentrumspartei war, hat er sich zum antiklerikalen Linken entwickelt und in London die Schriften von Marx und Engels durchgearbeitet. Nach Hamburg kam er auf Empfehlung des prominenten Sozialdemokraten Franz Mehring, der ihm einen Job als Parteihistoriker vermittelte. 1914 gehört er zu jenen Sozialdemokraten, die sich bis zuletzt gegen den Kriegseintritt wehren. Längst gehört er zur USPD und steht viel weiter links als die ziemlich bürgerliche SPD. Im November 1918 will er nun selber Geschichte schreiben. Und das gelingt ihm schon, als der Arbeiter und Soldatenrat – übrigens gegen die Stimme der SPD – die Auflösung von Bürgerschaft und Senat und die Übernahme der Macht beschließt. Plötzlich ist Laufenberg der mächtigste Politiker der Hansestadt, woraufhin ihn die bürgerliche Presse als „roten Diktator von Hamburg“ beschimpft.
Und wie erleben die Hamburger die Revolution? Natürlich überschlagen sich die Ereignisse, die Zeitungen drucken Tag für Tag dramatische Schlagzeilen, trotzdem geht das normale Leben relativ unbeeinträchtigt weiter. In Hamburg wird niemand an Laternenpfählen aufgeknüpft. Die Geschäfte werden nicht geplündert, sondern haben geöffnet, das Angebot ist so dürftig wie vor der Revolution. Die Straßen, Hoch und S-Bahnen fahren planmäßig. Wer es sich leisten kann, besucht den Alsterpavillon oder eines der anderen eleganten Cafés und Restaurants der Innenstadt. Und auch die Kinos und Theater haben den Spielbetrieb keineswegs eingestellt, sie müssen allerdings die Anfangszeiten nach vorn verlegen: Ihr Publikum sollte spätestens um 22 Uhr wieder zu Hause sein, denn von da an gilt eine Ausgangssperre.
Viele Hamburger haben ohnehin andere Sorgen, sie hungern und frieren. Außerdem grassiert die Spanische Grippe, die Tausende Opfer fordert. Natürlich gibt es viel Aufregung, Soldaten und Arbeiter ziehen bewaffnet durch die Stadt, aber zu Schießereien kommt es kaum. Das hat nicht zuletzt praktische Gründe, am Ende des vierten Kriegsjahres ist die Munition ziemlich knapp.
Anders als die russische Oktoberrevolution ist es kein blutiger Umsturz, sondern ein Übergang vom Wilhelminischen Kaiserreich in eine noch recht offene Zukunft.
Am 18. November ist es mit der roten Diktatur im Grunde genommen schon wieder vorbei, nun beschließt der Arbeiter und Soldatenrat, dass Senat und Bürgerschaft doch wieder tätig werden sollen, behält sich allerdings ein Vetorecht vor. Nur so lässt sich nämlich das Funktionieren der öffentlichen Ordnung garantieren. Innerhalb von kurzer Zeit erlassen die Revolutionäre zwar 135 Verordnungen, die das öffentliche Leben neu ordnen und wichtige politische Forderungen der Arbeiter einbringen. Aber anders als die russische Oktoberrevolution ist es kein blutiger Umsturz, sondern ein Übergang vom Wilhelminischen Kaiserreich in eine noch recht offene Zukunft, an der die alten Institutionen der Stadtrepublik ziemlich aktiv mitwirken können. Und dass ein Räte-System nach sowjetrussischem Vorbild in Hamburg und Deutschland auf Dauer keine Chance hat, muss Laufenberg schon Mitte Dezember feststellen, als er zum 1. Reichskongress der Arbeiter und Soldatenräte nach Berlin reist. Denn dort tritt die Mehrheit der Delegierten für die Wahl einer Nationalversammlung ein, was quasi die Selbstabschaffung der Räte bedeutet. Zwar spielen diese auch zu Jahresbeginn 1919 noch eine Rolle, aber spätestens mit der Bürgerschaftswahl am 16. März ist die Revolution in Hamburg endgültig vorbei. Laufenbergs USPD kommt gerade mal auf 13 Mandate, die SPD erreicht mit 50,5 Prozent und 82 von 160 Sitzen die absolute Mehrheit. Jedoch: Dass es überhaupt zu dieser Wahl kommen kann, ist das vielleicht wichtigste Ergebnis dieser, von den Matrosen und Arbeitern getragenen Revolution: Erstmals gibt es nun das allgemeine Wahlrecht ab 20 Jahren. Und erstmals gilt es auch für Frauen.