November 2018
Von Jenny V. Wirschky
Das Stehaufmännchen der Hamburger Bierindustrie war zur rechten Zeit am rechten Ort: Die Holsten-Brauerei wächst seit ihrem Gründungsjahr 1879 über sich selbst hinaus. Boykott, Krieg und Wirtschaftskrise zum Trotz, mit ungebremstem hanseatischen Willen. Zu dem gehört auch, sich beizeiten wieder zu verkleinern.
Wir schreiben das Jahr 1879. Die Gründung des Deutschen Reichs ist keine zehn Jahre her und die Zeiten sind bestimmt von Aufbruch und Umbruch. Kurz nach der neuen Verfassung, die das Kaiserreich 1871 erhält, geht es wirtschaftlich erst steil nach oben, dann 1873 mit dem Gründerkrach wieder steil bergab, bis es fünf Jahre später unter Otto von Bismarck zu einem konservativen Systemwechsel kommt – er will der landesweiten Stagnation der Kaufkraft und der Anhäufung spekulativer Firmengründungen etwas entgegensetzen. Als Reichskanzler führt er deshalb die Schutzzollpolitik ein und belegt unter anderem die Einfuhr amerikanischen Getreides mit einem Zollbann. Die deutsche Wirtschaft soll ihre eigenen Erzeugnisse produzieren und konsumieren: Weg vom Freihandel zugunsten der heimischen Großagrarier, bis der Zoll für Weizen von 1880 bis 1913 von zehn auf 70 Mark pro Tonne steigt, wie die Historikerin Nina Reusch herausstellt.
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Es herrscht also nicht nur mental die richtige Atmosphäre für neu konzipierte, moderne Großbetriebe, sondern hinsichtlich des Materials auch ein wirtschaftlich günstiger Zeitpunkt für große Brauereiunternehmen. Zumal Norddeutschland brautechnisch derzeit im klaren Hintertreffen war, da einzig die von Gröninger seit 1793 betriebene Brauerei die Hamburger mit regionalem Bier versorgen kann (das war im 14. Jahrhundert ganz anders. Über 500 Hamburger Hausbrauereien kümmern sich im Mittelalter um die Produktion von Bier. Allerdings noch nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot – das kommt ja erst 1516. Im 17. Jahrhundert schläft der Biergenuss aus verschiedenen Gründen etwas ein und erwacht erst wieder mit der Industrialisierung). Kurzum: Die Holstenväter sind sehr ambitioniert – und scharen schon vor der Gründung etliche investitionsfreudige Kaufleute um sich.
Am 24. Mai 1879 findet schließlich die Gründungsversammlung der späteren Aktiengesellschaft statt. Keine drei Wochen zuvor saß der harte Kern noch gesellig beisammen und schwadronierte über eine eigene Großbrauerei in Altona, doch aus dem Palaver wurde ernst und schon „am 10. September desselben Jahres wird der Grundstein für einen umfangreichen Brauereikomplex aus typisch norddeutschem Backstein gelegt“. Es ist der Grundstein für jenes Gebäude, das wir heute sehen, wenn wir vom Holstenplatz in die Haubachstraße einbiegen. Marianne Frühauf schreibt in ihrer Monografie „Fabrikarchitektur in Hamburg bis 1914“, dass die Holsten-Brauerei damals durch den Wiesbadener Architekten und Brauerei-Ingenieur Anton Landgräber entworfen und ausgeführt wird. Der Architekturjournalist Sven Bardua schreibt 2018, dass die nach Erreichen der 100.000-Hektoliter-Marke notwendigen Erweiterungsbauten ab 1911 von der Firma Dücker & Co. ausgeführt werden, mit Ernst Mautner als verantwortlicher Architekt.
Unfreiwillige freiwillige Neuerungen
Im Zweiten Weltkrieg zerstören jedoch Bomben das Gebäude schwer und die neuen Anbauten können der Backsteinästhetik des 19. Jahrhunderts nicht gerecht werden. Inzwischen haben sich an diesem Monument auch die 1970er und 80er Jahre mit ihren Wellblechepisoden vergangen und den Boden, auf dem tagein tagaus Zehntausende Bierkisten umhergefahren werden, ziert kein nostalgisches Kopftsteinpflaster mehr, sondern uniformierter Waschbeton. Man erkennt die altehrwürdige Residenz der Holsten-Sudkessel trotzdem auch heute von Weitem: Die kupfergrüne Rittergestalt auf dem Dachgiebel richtet ihren Blick seit mehr als 125 Jahren über Hamburg – und auf den Erfolg des Unternehmens, der übrigens unmittelbar einsetzt. Keine drei Monate nach der Grundsteinsetzung ist der Bau abgeschlossen, die Braumeister setzen den ersten Sud für das Holsten Pilsner an und verköstigen das fertige Untergärige am 6. Mai 1880 offiziell.
Gröninger hin oder her: 1884 führt Holsten die Kunsteiskühlung ein, kann dadurch exzellentes Lagerbier brauen, das bei niedrigen Temperaturen zur Reife gelangt. Es ist so erfolgreich, dass im Jahr 1889 schon 80.000 Hektoliter produziert werden. Im selben Jahr benennt das Königliche Commerz-Collegium das Holsten-Universum als die bedeutendste Brauerei in Altona.
Und das nicht nur wegen eines immensen Umsatzes (von dessen Ursachen hier später noch die Rede sein wird), sondern auch, weil das Unternehmen baulich und technisch für diesen Industriezweig damals neue Maßstäbe setzt. Der Blick nach vorne wird belohnt: War die Brauerei ursprünglich für 60.000 Hektoliter angelegt, wird mit der Übernahme der Brauerei A. Janssen Wwe. im Jahr 1909 für die Produktion von standardmäßig 100.000 Hektoliter aufgestockt – und nachdem Hamburg 1910 die Eine-Million- Einwohner-Marke knackt, kommen 1911 eine neue Schwank- und Versandhalle, 1912 und 1913 ein Sud- und ein Maschinenhaus hinzu – beides ebenfalls durch den Architekten Anton Landgräber und Baugeschäft Dücker & Co., Düsseldorf, realisiert. In dieser Zeit wird der gesamte Betrieb mit moderneren Anlagen reorganisiert, um dem stetig steigenden Produktionsbedarf gerecht zu werden und das Wortzeichen Holsten Edel eingetragen. Und es nimmt kein Ende: Bereits 15 Jahre später errichtet Holsten ein zweites Sudhaus, vergrößert die Kessel- und Maschinenanlage, erweitert die Malzsilos und erwirbt zwei Eckgrundstücke in Altona an der heutigen Holstenstraße sowie einen Lagerplatz in der Viehhofstraße 29.
Noch immer sind die etlichen An- und Zubauten an der Verschachtelung des Gesamtkomplexes mit seinen verschiedenen Ebenen zu erkennen. Dieser enorme Ausbau ist damals aber nur deshalb so einfach möglich, weil das Gebäude am Rande der Altonaer Innenstadt liegt, also vor den Toren der Stadt. Ansonsten wäre die gigantische Anpassung am Gebäude wie die Erweiterung der Kellereien und der damit zusammenhängenden Anlagen gar nicht möglich gewesen. In den Jahren 1929 bis 1930 werden so zusätzlich rund 40.000-Hektoliter-Lagerkeller und 10.000-Hektoliter-Gärraum erschlossen. Aber: Die Erfolgsgeschichte der Holsten-Brauerei entsteht ja gewissermaßen auf der grünen Wiese und vielleicht kann die Firma auch deshalb von Anfang die Kombination Hamburg-Altona im Namen tragen – trotz der politisch gespaltenen Gemeinwesen. Man wollte wohl der Maxime des Biergenusses gerecht werden: Geselligkeit. Denn im Gefühl der Bürger gehörten Hamburg und Altona schon lange zusammen. Und das ist damals die Zielgruppe, denn „welch unterschiedliches Image die Hamburger Brauereien hatten, zeigt die Aussage eines Brauers auf einer Gewerkschaftsversammlung: Einzelne Brauereien […], treffe der Boykott weniger, wie die Holsten, deren Bier hauptsächlich in Spießbürgerkneipen getrunken wurde“, so der deutsche Historiker Ulrich Wyrwa.
Arbeiter und Laissez-Faire
Bier ist zur Gründerzeit noch das Getränk der Arbeiterklasse und so müssen die Brauereien bei etwaigen Auseinandersetzungen mit direkten Konsequenzen rechnen, denn die Vereinigungsmechanismen der Gewerkschaften greifen hier besonders – gibt es Schwierigkeiten, wird boykottiert. So auch um die Jahrhundertwende, als die Arbeiter in den Hamburger Brauereibetrieben gegen die Arbeitsbedingungen protestieren und sich die Auseinandersetzungen in der Brauindustrie erst anbahnen, dann verschärfen. „Konfliktpunkte waren die Arbeitsverhältnisse der verschiedenen Arbeiter“, weiß Wyrwa und sie „forderten ferner die Anerkennung des gewerkschaftlichen Arbeitsnachweises und die Einführung des 1. Mai als Feiertag. Darüber hinaus sollten neue Vereinbarungen über Löhne und Arbeitszeiten getroffen werden.“ Sie wollen das Bier der bestreikten Hamburger Brauereien boykottieren und die Bevölkerung dafür mit auswärtigem Bier versorgen. Doch: Die Arbeiter können sich nicht auf Dauer im Kollektiv verhalten. Es gibt auch gar keine grundlegenden Verhaltensrichtlinien, die den Arbeitern das sichere Gefühl eines gemeinschaftlichen Boykotts geben würde. Und: Das heimische Bier schmeckt damals einfach besser. Also liegt die Schwierigkeit, vor der sich die Arbeiter während des Bierboykotts sehen, nicht zuletzt in zwei grundlegenden Elementen der Arbeiterkultur „Solidarität und Biergenuß“, die miteinander im Konflikt stehen. Laut Wyrwa soll deshalb „jetzt allein das Hamburger Bier […] mit Boykott belegt werden“.
So ist die Genussverweigerung als Druckmittel bald passé. Die Holsten-Brauerei ist zwar als Produzent für die etwas besser gestellten Biertrinker ohnehin nie richtig von den Arbeiterstreiks betroffen, die allgemeine Stimmung im Bürgertum greift aber seit einiger Zeit dem wirtschaftlichen Ruin des Ersten Weltkrieges vor, es gibt Mäßigkeits- und Abstinenzvereine, die den Alkoholkonsum als bedrohlich diskreditieren. Die gleichen Leute nehmen Ende des 19. Jahrhunderts dann allgemeine „die Präsenz und Stärke der Arbeiterklasse“ ins Visier, die es fortan zu bekämpfen gilt. Für Ulrich Wyrwa folgt daraus, dass sich „die Anti-Alkohol-Bewegung in Deutschland immer mehr in eine nationalistische Sammlungsbewegung einspannen [lässt] und … zunehmend ein kriegerisch-aggressives Weltbild“ einnimmt. Bis die Sozialistengesetzte von 1879 die sozialdemokratische Parteipresse, Vereine und Versammlungen verbieten. „Beim Zuwiderhandeln konnten Geld- oder Gefängnisstrafen verhängt werden“, schreibt der Historiker Karl Vocelka in seiner Geschichte der Neuzeit.
So viel zum Umfeld, in dem die Holsten-Brauerei groß geworden ist. Schwere Zeiten, aber durchaus auch solche, in denen sich die Zielgruppe aus politischen Gründen zusammentut und im aufregend bis gefährlichen Kontext der Zusammenkünfte ein neues Gemeinschaftsgefühl entwickelt – und Bier trinkt. Es mag weit hergeholt erscheinen, dieses Getränk, das es in früher Form bereits bei den Ägyptern gab, als liquides Element der Freundschaft auszuzeichnen. Andererseits überlebt das Hamburger Bier mit Holsten an der Spitze auch den zweiten Boykott, vier Jahre später, den die Brauereibesitzer im August 1906 beschließen und wegen einer Steuererhöhung kurzerhand die Bierpreise heraufsetzen. Die Wirtevereine reagierten mit einem eigenen Bierembargo, das sie jedoch, genau wie die Gewerkschaften ihren Boykott, nach kurzer Zeit aufgeben, weil man sich nicht geschlossen verhält. Es ist einfach zu wichtig, bei einem ordentlichen Hamburger Bier beisammenzusitzen und auf die Freundschaft anzustoßen.
Von den Kesseln an die Front
Kurz bevor der Erste Weltkrieg ausbricht, kann sich die Brauerei das Wortzeichen Holsten Edel eintragen lassen. Ein Meilenstein der Marke – und Garant für eine Konjunktur des Brauereibetriebs in Altona. Die Menschen lieben dieses Bier. Doch mit dem Jahr 1914 versiegen die so hart erarbeiteten Erfolge im Orbit der dogmatischen Wendungen: Der Export ins durstige Ausland wird verboten, die einst reich verfügbaren Rohstoffe für die Bierproduktion bleiben aus und schließlich werden die Mitarbeiter über Nacht zu Frontkämpfern. Man kann sich vorstellen, dass nur wenige der Brauer an ihren Sudkessel in der heimischen Brauerei zurückkehren. Der Vorplatz der Holsten-Brauerei vereinsamt im Eiltempo – aber verwaisen tut er nicht. „Bereits in den letzten Kriegsmonaten setzt ein radikaler Konzentrationsprozess im hamburgischen Braugewerbe ein, und nachdem der Geschützdonner an den fernen Fronten endgültig verklungen ist, ist auch manches Traditionsbrauhaus aus der heimischen Brauereilandschaft verschwunden“, wie der Hamburger Kulturhistoriker und Buchautor Harald Schloz in der Holsten-Jubiläumsschrift 2004 festhält. Die Holsten- Brauerei überdauert zwar das Jammertal. Doch nur mit Mühe und Not und jeder Menge Einbußen. So sind nicht nur die Hektoliter erheblich gefallen, auch die Qualität wird nach eigenen Maßstäben nur noch schwerlich dem eines ordentlichen Bieres gerecht.
Kleiner Mann, was tun? Entweder klein beigeben, oder – wie immer – zum Angriff übergehen. Statt lautlos in den Kriegswirren unterzugehen, vergrößert sich Holsten und übernimmt drei Hamburger Brauereien. Gut gedacht, denn so wächst Holsten in diesen unsicheren Zeiten, in denen viele Konkurrenten aufgeben, zu einer wahren Lokalgröße heran. Mit diesem Durchhaltevermögen übersteht das Unternehmen auch die Inflation, die für ein Feierabendbier mehrere Millionen verlangt.
1918 ist der Krieg vorbei, ein Jahr zuvor verkauft Holsten seine Grundstücke Brandsende 7-9 und 11 an die Kühlhaus-Zentrum AG, und so langsam beginnen die Hamburger wieder zu feiern. Die Konkurrenz ist auf ein marginales Minium von drei großen und vier kleinen Brauhäusern geschrumpft – und Holsten wittert die Chance, von lokal auf regional nach Schleswig-Holstein zu expandieren. Der Trend setzt sich bis Kiel durch und 1929 knackt Holsten seine Hektoliter-Marke bei einer halben Million. Es ist geschafft: Auch den bitteren Black Friday übersteht die Brauerei. Ein Privileg, dass nicht von ungefähr kommt und vor allem längst nicht alle Brauereien im Umfeld teilen. 1937 wird der Betrieb schließlich zu einem Hamburger Unternehmen: Das Groß-Hamburg-Gesetz macht Altona zu einem Teil von sich und Holsten damit zu einem von uns.
Wieder Krieg und wieder Krise
Mit dem Jahr 1939 ist der Zeitpunkt erreicht, an dem endgültig jegliche profitable Illusion dem harschen Realismus weicht. Bombardements und Lieferengpässe zerstören die Produktionsstätten in der heutigen Holstenstraße so dramatisch, dass an eine reguläre Produktion bis auf Weiteres nicht zu denken ist. Das bisschen, das den Weg in die Flasche findet, ist ab 1942 hauptsächlich für die Kriegsveteranen bestimmt, sodass „fast während des ganzen Berichtsjahres […] der Bierabsatz infolge notwendiger Kontingentierung des Verkaufs rückläufig [war], nur mit Lieferungen von Proviantbier an die Wehrmacht war die Gesellschaft stärker beschäftigt“. Zwar ist auch Holsten im Krieg tatsächlich mit Lieferungen an die deutsche Armee beauftragt, doch wenn sogar die dafür notwendigen Transportmittel knapp werden, ist eine regelmäßig gesicherte Abnahme dennoch utopisch. Die Einnahmen gehen drastisch zurück und „eine weitere Einbuße ergab sich durch die ab 15. Mai 1942 erfolgte Herabsetzung des Preises für Schankbier um RM 4,00 je Hektoliter. Für Gewinnabschöpfung und nachträglich erhobene Steuern waren erhebliche Summen erforderlich.“
Mehr schlecht als recht also übersteht die Brauerei den Zweiten Weltkrieg – doch trotz weitestgehend zerstörter Sudhäuser, Lager und Abfüllanlagen geben die Holsten-Braumeister nicht auf. Im ruinösen Rest „gehen die verbliebenen Mitarbeiter unverzagt ans Werk. Sie wollen – trotz ungewisser Zukunft – weiterhin Bierbrauen.“ Und das, obwohl die Bevölkerung in diesen Trümmerzeiten mehr Hunger hat, als Durst auf Bier. Die Trümmer aufzulesen, um aus der Asche den Phönix zu errichten, gehört zum Tagesgeschäft aller Überlebenden. Auch in Hamburg. Und so „gehen die verbliebenen Mitarbeiter unverzagt ans Werk. Sie wollen – trotz ungewisser Zukunft – weiterhin Bier brauen“.
Die 1950er bis heute
Mit dem Kampf gegen die unvermeidbaren Qualitätsverluste gelingt es Holsten als beinahe einzige Brauerei, dem Anspruch der Bier trinkenden Bevölkerung nach Kriegsende wieder gerecht zu werden – nicht umsonst: „1952 füllt Holsten als einer der Vorreiter auf diesem Gebiet Bier für Exportzwecke in Flachdeckeldosen ab“ und erreicht Ende der 50er Jahre die 1-Million-Hektoliter-Grenze. Langsam zeichnet sich ab, dass das einst von der Oberschicht verschmähte, urdeutsche Bier über alle Milieugrenzen hinweg zu einem weltweiten Dauerbrenner werden soll. Für Hamburg betrifft das 1964 fast zwei Millionen Menschen – Bevölkerungshöchststand (und laut Prognosen der Bertelsmann-Stiftung von 2009 auch in zehn Jahren noch unerreicht). Die Szene der Rock- und Jazzmusik tut Anfang der 60er ihr Übriges: Die hedonistischen Jugendbewegungen florieren in Hamburg und mit ihnen auch der Biergenuss. Nicht zu vergessen der erfolgreiche Fußballsport, in dessen Namen der HSV für Hamburg 1960 den deutschen Meistertitel holt. Und was kann man sich besser denken, als einen HSV-Fan mit einer edlen Flasche Holsten in der Hand? Doch genug der Klischees, Quintessenz ist, dass die Zeichen gut stehen für eine erneute Expansion.
Und so nimmt man diese Entwicklung zwischen den Wänden der Holsten-Brauerei nicht nur erfreut, sondern vor allem sehr geschäftig wahr: „Nachdem in der Vorkriegszeit der Einflussbereich in nördlicher Richtung ausgedehnt worden war, wird nun der breite Strom überschnitten, um sich südlich der Elbe liegenden Braustätten zuzuwenden.“ Bremen, Bille – und sogar Niedersachsen: 1972 wird Holsten Mehrheitseigner der Kaiser-Brauerei in Hannover, 1974 folgt die Teilhabe an der Lüneburger Kronen-Brauerei und 1976 legt Holsten den Grundstein für die Übernahme der Brauerei Feldschlößchen im beschaulichen Braunschweig. Alles aus den Backsteingemäuern im nördlichen Altona heraus.
“Mit diesem wohlgesonnenen Kreuzzug durch die norddeutsche Brauereilandschaft hat der Holsten-Ritter in den 1970er Jahren nicht ohne Grund auf seinen Werbetafeln stehen: Im Norden Nr. 1.”
Doch damit nicht genug: Der Norden ist bereits erobert, mit der Wende wartet 1989 endlich Neuland. Als das deutsch-deutsche Nachkriegsgesicht zum Babyface der einheitsdeutschen Demokratie wird, öffnen sich die Grenzen nicht nur für die Menschen, sondern auch für das Bier, das sie trinken. Schon im Dezember 1989 bringt Holsten um die dreitausend Hektoliter Dosenbier ins schöne Dresden und keine zwei Jahre später wird das ehemals ostdeutsche Lübzer Mitglied der Holsten-Bierfamilie.
Sieben Jahre später kehrt die Holsten-Brauerei mit ihrem Wachstumswillen nach Hamburg zurück und erwirbt 1998 die Bavaria- und St.-Pauli-Brauerei – Sudkessel-Residenz des Astra Biers. Es ist die Geburtsstunde der bis heute erfolgreichen Plakatkampagne Astra – was dagegen? und die etlicher neuer Arbeitsplätze im Gebäude der Holstenstraße, denn Bavaria-Brauereibetrieb und -Mitarbeiter werden kurzerhand integriert. Man kann es sich denken: Diesen Erfolgskurs bringt niemand mehr ins Schwanken. Es folgen etliche Übernahmen in ganz Deutschland, bis – ja, bis Holsten selbst übernommen wird. 2004, im Jahre ihres 125-jährigen Bestehens, übernimmt Carlsberg Deutschland die Brauerei – und gehört seither zu den zehn Brauunternehmen, die zusammen 60 Prozent des deutschen Bierabsatzes erwirtschaften, wie die Hamburger Redakteurin und Beerkeeperin Sünje Nicolaysen herausstellt. Der dänische und der norddeutsche Konzern sind nicht nur Nachbarn der Region, sondern auch Nachbarn im Geiste – die Zukunft im Blick ist es 2016 Zeit für Veränderungen.
Alles hat ein Ende
Zwölf Jahre nach der Übernahme gibt Carlsberg bekannt, dass Holsten die traditionsreichen Räume in Altona-Nord verlassen wird. Die Gründe sind vielfältig, und um diesen Zug zu verstehen, muss man zum Herz des Hauses vordringen – und damit auch zur öffentlichen Stimme des Unternehmens. Die Lage mitten in der Stadt, umgeben von Wohngebieten, ist bereits heute schwierig. Das hat mehrere Gründe, die mit Blick auf die Veränderungen der modernen Welt allesamt auf der Hand liegen. Aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens stehen die Lkws im Stau, wegen der inzwischen beträchtlichen Anwohnerzahl verbieten städtische Restriktionen die nächtliche Verladung und durch die im Bau befindliche Neue Mitte Altona werden die Infrastrukturprobleme in unmittelbarer Nachbarschaft noch zunehmen. Auch mit Blick auf die industrielle Nutzung ist der Standort Altona aus verschiedenen Gründen nicht mehr zeitgemäß. So ist die Fläche der Holsten-Brauerei für den sinkenden Bierkonsum in Deutschland zu groß. Das Unternehmensziel will zwar gegen den Trend noch Marktanteile dazugewinnen, rechnet aber trotzdem mit einem sinkenden Bierkonsum und plant daher künftig geringere Kapazitäten ein. Auch will Holsten die schlechte Bausubstanz hinter sich lassen, die Technik auf ein neues Level heben und – last but not least – unnötige Arbeitswege einsparen: Bisher müssen die Mitarbeiter durch die Bauweise des ursprünglichen Gebäud-komplexes jeden Tag auf mehreren Ebenen arbeiten und lange Arbeitswege in Kauf nehmen.
All die genannten Gründe machen, aus Sicht von Pressesprecher Christoph Boneberg, eine Erneuerung der Holsten-Brauerei nicht nur zur hinreichenden, sondern vor allem zur notwendigen Bedingung: „Wir haben keine Perspektive in Altona, denn auf dem aktuellen Gelände wäre all das weder sinnvoll noch möglich und der Verkauf des Geländes in Altona hat uns die einmalige Gelegenheit überhaupt erst geboten, die nötige Erneuerung zu finanzieren. Ohne den Verkauf wäre es lediglich eine Frage der Zeit gewesen, bis Holsten die Brauerei hätte schließen müssen.“
Der Neubau bietet die Chance, die langjährige Tradition der Holsten-Brauerei (die in ihren Hochzeiten eine Kapazität von drei Millionen Hektolitern erreicht) fortzusetzen und gleichzeitig diejenigen Probleme zu lösen, die der bisherige Standort mit sich gebracht hat. Das Industriegebiet an der A7 in Hausbruch bietet eine verbesserte Verkehrssituation, ein effizientes Layout senkt die Herstellungskosten, die Kapazitäten entsprechen der langfristigen Absatzplanung und Arbeitsplätze, die sonst in naher Zukunft verloren gegangen wären, sind auf lange Sicht in Hamburg gesichert.
Im November 2019 ist es schließlich soweit: Bürgermeister Peter Tschentscher läutete beim Festakt die Inbetriebnahme der neuen Produktionsstätte ein und damit ein neues Kapitel in der Geschichte der Brauerei. Einige Kollegen beobachten indes in Altona den Bau von rund 1.500 neuen Wohnungen: die Verwaltung mit den Bereichen Marketing, Vertrieb, Personal und Finanzen verbleiben nämlich am alten Standort.
Denkmalschutz
Obwohl offensichtlich geschichtsträchtig, steht keines der Gebäude unter Denkmalschutz. Die Brauerei nimmt ihre Pflicht der Hamburger Kultur-Vererbung trotzdem ernst und will einige Teile des Bauwerks als identitätsstiftende Merkmale auch im neuen Holsten-Quartier erhalten. Das zumindest sieht der Gewinnerentwurf der ECE aus dem Architekturwettbewerb vor: Erhalt des backsteinernen Juliusturms und des Sudhauses mit dem Holsten-Ritter auf dem Dach und stilistische Anpassung des neuen Areals an die angrenzende Neue Mitte Altona. Außerdem bleibt die Administration in einem neuen Gebäude am Standort Altona, um das Holsten-Erbe dort zu erhalten. Und auch die Stadt arbeite mit an der sinnvollen Nutzung des Brauereigeländes und verzichtete auf das Vorkaufsrecht für die 45.000 Quadratmeter umfassende Fläche, als es 2016 an den Projektentwickler ECE verkauft wurde. Die versicherte dem Senat im Gegenzug verbindlich, die bestehenden Entwicklungsziele für das neu erschlossene Areal umzusetzen.