Der Georg Koppmann Preis für Hamburger Stadtfotografie wird im Jahr 2023 zweimal vergeben. Die Jury hat sowohl das Projekt „Steindamm Atlas“ von Alexandra Polina als auch das Projekt „Am Diebsteich“ von Irina Ruppert ausgezeichnet.
Heimat Diebsteich
Von Peter Luley, Journalist
Als mein bester Freund und ich 1991 nach Hamburg zogen und eine Wohnung suchten, wäre mit etwas finanzieller Kraftanstrengung wohl auch ein kleiner Altbau in der Eppendorfer Martinistraße in Frage gekommen. Dass wir uns letztlich für die 54 Quadratmeter in einem 1950er-Jahre-Rotbacksteinbau Am Diebsteich entschieden, hatte mehrere Gründe. Zunächst mal war da die zentrale Lage – wobei zentral für uns damals vor allem hieß: nah am Kiez. Und nah an Altona, Ottensen, der Fabrik, dem Insbeth, dem Familien-Eck.
Natürlich war uns beim Erkunden der Gegend nicht entgangen, dass der Fußmarsch von der Stresemannstraße zu unserer Wohnung sich über zwei Kreuzungen hinzog und zum Teil über nicht mehr gepflasterte Wege in immer unwirtlichere, industriell geprägte Gefilde führte. Und natürlich hatten wir bemerkt, dass der S-Bahnhof Diebsteich, vier Stationen vom Hauptbahnhof entfernt, über einen Fußgängertunnel mit veritablem „Tatort“-Appeal verfügte. Andererseits hatte dieses seltsam übersehene Viertel mitten in der Metropole auch einen ganz speziellen Outlaw-Charme. Aus dem Fenster blickten wir auf Schrebergärten, in dem Grün zwitscherten Vögel. Im Sommer wehten Lagerfeuerrauch und Grill-Duft herüber. Den alten Volvo konnte man problemlos zwischen den Bäumen gegenüber der Wohnung parken.
Das Diebsteich-Quartier der frühen 1990er Jahre prägten Fixpunkte, die heute nicht mehr existieren. An der Kreuzung Schützenstraße/Leverkusenstraße, wo sich derzeit das Café Mola befindet, gab es als letzten Außenposten des Lebensmittel-Einzelhandels einen Krämerladen, den ein altes Ehepaar betrieb. Einkäufe dort waren nicht günstig und konnten dauern. Nicht selten musste einer der beiden in den Keller steigen, um die gewünschte Ware heraufzuholen, bevor der Stift hinterm Ohr hervorgezogen wurde, um auf einem Block die Abrechnung zu erstellen. Klar, dass mit dem Ruhestand der Pächter auch dieses Geschäftsmodell verschwand. Gegenüber in der Schützenstraße gab es danach noch ein paar Jahre einen türkischen Obst- und Gemüseladen, den Akin-Markt – aber auch der ist lange geschlossen.
Eine Kreuzung weiter an der Ecke Schützenstraße/Leunastraße, gegenüber von Harry’s Fliesenmarkt, wo heute das Maleco-Farbwerk steht, befand sich die Einfahrt zu einer Fabrikhallenstraße. Auf dem Dach des ersten Gebäudes, einer Kfz-Werkstatt namens Auto Gerd, thronte als Reminiszenz an die noch nahe Wendezeit und wie ein Symbol für die herrschende Garagen-Subkultur ein hellblauer Trabant. Ein paar Häuser weiter Richtung Bahntunnel hatte der Fotograf Frank Wartenberg sein Studio. In der Ruhrstraße wiederum konnte man sich allen infrastrukturellen Mängeln zum Trotz bei 1000 Töpfe fußläufig mit Renovierungs- und Einrichtungsbedarf ausstatten. Doch der Clou befand sich neben dem Kaufhaus. In einem unscheinbaren Flachbau residierte der italienische Wein- und Lebensmittelhändler Gino Carone, bei dem man Pasta nicht nur zum Selberkochen kaufen, sondern auch vor Ort verzehren konnte: auf Bierbänken zwischen Regalen sitzend, beschallt mit lauten Opernarien. Erst als sich die Location zum Anziehungspunkt für Pinneberger Wochenend-Diskogänger entwickelte, war auch hier Schluss.
Das Blühen der Nischen und ein teils kurioses Nebeneinander sind dem Viertel dagegen genauso erhalten geblieben wie diverse Großmärkte und manch unerwarteter Glamour. Nur Kenner wissen, dass Am Diebsteich die Firma Props and More ansässig ist, ein einzigartiger Requisitenverleih für Werbe-, Film- und Theater-Produktionen. Oder dass ein paar Hausnummern weiter in den Periscope-Studios TV-Spots, Trailer und Games vertont werden. Genau dazwischen, neben einem englischen Stilmöbelhändler, befindet sich eine Ausgabestelle für Gesundheitszeugnisse – oft bilden sich lange Schlangen vor dem kleinen Häuschen. Versteckt in einem Hinterhof in der Leverkusenstraße hat die Produktionsschule Altona ihren Sitz, in der Schulabbrecher ihren Hauptschulabschluss nachholen können.
Ein Anziehungspunkt ist der Gebrauchtwarenladen Stilbruch in der Ruhrstraße, und neben dem Metro-Großmarkt in der Plöner Straße locken die spanischen und italienischen Supermärkte Calapesa (Schützenstraße) und Andronaco (Beerenweg) Publikum aus anderen Stadtteilen an. Mit dem Saliba war in der Leverkusenstraße bis 2010 zudem das beste syrische Restaurant der Stadt ansässig, danach zog TV-Koch Tim Mälzer ins Souterrain des historischen Bahnkraftwerks. Ein paar Ecken weiter am Holstenkamp betrieb mit Christian Rach ein anderer prominenter Fernsehkoch erst das Tafelhaus, dann Das kleine Rote und schließlich von 2009 bis 2019 das Steakhaus Rach & Ritchy.
Im Lauf der Jahrzehnte ist mir der Diebsteich, an dem ich nun länger lebe als irgendwo sonst, nolens volens zur Heimat geworden. Wenn ich mit dem Auto am Kaltenkircher Platz von der Stresemannstraße in die Kopfsteinpflaster-Buckelpiste Plöner Straße einbiege, habe ich das Gefühl, den bürgerlichen Sektor zu verlassen, und ein Hauch von „Ich bin wieder hier in meinem Revier“-Romantik weht mich an. Zu diesem Revier gehört meine Nachbarin Ute, die seit den späten 1980er Jahren mit wechselnden Französischen Bulldoggen, die Rocky, Rambo, Willy – und aktuell Alma – heißen, das Viertel durchstreift. Dazu gehört, dass ich auf dem Balkon Torjubel sowohl aus dem Millerntor- als auch aus dem Volksparkstadion hören kann. Konzerte und das Hupen der Schiffe bei der Hafeneinfahrt natürlich auch.
Als meine Mutter starb, entschied ich mich, ihre Asche auf einem kleinen Friedhof am Holstenkamp beizusetzen. Den Grabstein für ihre letzte Ruhestätte ließ ich beim Steinmetzbetrieb Carl Schütt und Sohn anfertigen, weil ich dessen quaderförmigen Firmensitz an der Einmündung des Diebsteichs auf die Ruhrstraße so gerne mag. Wenn ich das Grab besuche, laufe ich meist über den Friedhof Bornkampsweg – und mache manchmal noch einen Abstecher auf die andere Seite der A7, spaziere an der Trabrennbahn Bahrenfeld vorbei und weiter in den Volkspark.
Um mich für die Historie des Diebsteich-Viertels zu interessieren, bedurfte es allerdings tatsächlich der Ankündigung der Fernbahnhofsverlegung von Altona nach Diebsteich im Jahr 2014. Ich recherchierte die Herkunft des Namens und lernte, dass er nichts mit Räubern zu tun hat, sondern sich vermutlich von der plattdeutschen Bezeichnung für „tiefer See“ ableitet – und dass jener Diebsteich bis 1912 von der Isebek durchflossen wurde. Um ihn herum, dort, wo sich heute die Agentur für Arbeit an der Kieler Straße befindet, entstand vor dem Ersten Weltkrieg das Vergnügungsarreal Luna Park. Zu meinem Erstaunen las ich, dass die Diebsteich-Gegend ursprünglich als Villenviertel geplant gewesen sei, wovon noch heute die breiten Straßenzüge zeugten. Die Leunastraße, eine verhinderte Prachtallee – wer hätte das gedacht? Mit dem Voranschreiten der Baupläne ist das Quartier in den vergangenen Jahren sogar zum Gegenstand von Dokumentarfilmen geworden: „Das schräge Herz“ (2019) und „Diebsteich“ (2022) blättern die Historie auf.
Manchmal erschrecken mich die Größe des Projekts und der Gedanke an die jahrelangen Bauarbeiten. Dann erscheinen mir die geplanten Zwillingstürme überdimensioniert, das Fußballstadion und die Konzerthalle auf der Ostseite des Bahnhofs lassen mich ein Verkehrschaos befürchten, und natürlich ist auch eine Gentrifizierung zu erwarten. Selbst wenn auf den derzeit heiß gehandelten Grundstücken, auf denen eben noch Holzpaletten lagerten oder großflächig Grabsteine ausgestellt waren, wieder Werkhöfe entstehen sollten, dann sicher zu einem anderen Quadratmeterpreis. Und was wird aus den Künstlerateliers im Achterhaus in der Ruhrstraße?
Dennoch habe ich den Protest von Initiativen wie Prellbock Altona, die sich u. a. für den Erhalt eines als Müllhalde genutzten Sumpfs auf der anderen Seite des „Tatort“-Tunnels stark machten, von Anfang an absurd gefunden. Die schrabbelige kleine Kneipe Buena Vista mit ihrem sympathischen kubanischen Betreiber Osmar Laurente mag einen ungekannten nachbarschaftlichen Geist geschaffen haben, und es ist schade, dass sie weichen muss. Aber niemand kann bestreiten, dass hier schon lange städtebaulicher Handlungsbedarf bestand. Ganz davon abgesehen, dass der Altonaer Bahnhof in seiner heutigen Erscheinungsform auch nicht zu den gastfreundlichsten Orten Hamburgs zählt.
Für mich überwiegen klar die Chancen der Neugestaltung. Das Diebesgut-Regal und der dahinter liegende Hundeplatz in allen Ehren – aber wie toll wäre es, wenn an der Kreuzung Leverkusenstraße/Schützenstraße wirklich mal urbanes Leben Einzug hielte? Hoffnung macht mir der Plan einer grünen Achse vom Diebsteich über den Holstenkamp und den Autobahndeckel bis zum Volkspark. Schließlich bedeutet der, dass der traditionsreiche Friedhof Diebsteich mit seinen Sinti- und Roma-Grabstätten erhalten bleibt, genauso wie die angrenzende Schrebergartenkolonie. So sehr das Risiko besteht, dass ein paar Nischen für Kreative und Kleinbetriebe verloren gehen, so sehr glaube ich, dass das Quartier nach langem Dornröschenschlaf nun eine verdiente Aufwertung erfährt. Auf ein bisschen Outlaw-Charme würde ich dafür sogar verzichten.