Der Georg Koppmann Preis für Hamburger Stadtfotografie wird im Jahr 2023 zweimal vergeben. Die Jury hat sowohl das Projekt „Steindamm Atlas“ von Alexandra Polina als auch das Projekt „Am Diebsteich“ von Irina Ruppert ausgezeichnet.
Glamour der Zugewandtheit
Von Till Briegleb, Journalist und Autor
Den Steindamm zu fotografieren ist leicht. Jedenfalls wenn es aus der Perspektive der klassischen Dokumentarfotografie unternommen wird mit ihrem Anspruch, so genannte Missstände aufzuzeigen. Da lässt sich auf den 800 Metern zwischen Hauptbahnhof und Krankenhaus St. Georg aus dem Vollen schöpfen, sogar aus dem Randvollen, wie es reichlich über die schmutzige Straße torkelt. Wobei auf dieser Seite St. Georgs die Koordinationsstörungen ihre Ursache eher in Stoffen haben, die in Anlage I bis III des Betäubungsmittelgesetzes aufgeführt sind. Kombiniert mit dem hier praktizierten Sexgewerbe, einer Menge Testosterongehabe und subjektiven Warnzeichen für ein Gebiet, das keine Sicherheit garantiert, wie Dreck und Müllberge, Gerangel und Gebrüll, ist die traditionsreiche Straße schon lange eine Besorgnismeile der Hab-Acht-Reflexe.
Zur latenten Panik steigern lässt sich dieses Gefühl bei ängstlichen Gemütern noch durch Zeitungslektüre. Hier stand bis 2007 das „Horrorhaus“, eine verlassene und verfallende Büroimmobilie, die Asyl bot für die drei Schreckgespenster bürgerlicher Vorstellungen von „sozialen Brennpunkten“: Obdachlose, Junkies und Prostituierte, weibliche wie männliche. Auch alle Vorurteile gegenüber dem Islam wurden spätestens im Herbst 2001 vom Steindamm aus mit reichlich Material versorgt, weil die Flugzeug-Attentäter von New York Stammgäste in der „Terror-Moschee“ al-Quds gewesen waren, in der Hassprediger zum Dschihad gegen den Westen aufriefen.
Aber auch, wer eine aktuelle Lokalzeitung aufschlägt, findet Berichte über den Steindamm eigentlich nur bekränzt mit Überschriften wie: „Schlägerei nach Handyraub – Großeinsatz am Steindamm“, „Mit über 2 Promille – Sufffahrer (61) brettert in Dönerladen“ oder „Islamisten-Demo vorzeitig beendet.“ Obwohl Rentner in Hamburg mit ihren Autos viel häufiger in die noblen Boutiquen der Waitzstraße in Othmarschen brettern, ist die journalistische Haushaltsführung mit schauerlichen Szenarien aus dem Bahnhofsviertel viel besser bedient. Polizeifotografie mit künstlerischem Anspruch lässt sich also speziell auf dem oberen Teil des Steindamms mit Leichtigkeit ausführen.
Dabei hat dieses Areal eine extrem wichtige Funktion für eine Stadt, die ohne Wirtschaftsimmigranten überhaupt nicht funktionieren würde. Hamburg als klassische „Ankunftsstadt“ braucht behördenferne Orte für Neuankömmlinge mit verminderter Fremdheit. Menschen aus Armuts- und Konfliktgebieten auf der Suche nach einem besseren Leben bleiben ohne heimatähnliche Anknüpfungspunkte wurzellos, verzweifelt und wütend. New York, die tollste Stadt der Welt, hat es über rund 200 Jahre vorgemacht, wie Einwanderer eigene kulturelle Viertel schaffen konnten, die ökonomische und menschliche Zugänglichkeit für nächste Generationen ausbilden, darunter das so geheißene „Kleindeutschland“ Mitte des 19. Jahrhunderts in Manhattan für die damals nach den Iren zweitgrößte Flüchtlingsgruppe in den USA.
Diese Funktion hat der Steindamm und seine umliegenden Straßen seit dem Start des deutschen „Gastarbeiter“-Programms in den Sechzigern, dem das Land sein gelungenes „Wirtschaftswunder“ verdankt, für Hamburg. Von Anfang an begleitet von einer Kiezkultur mit Vergnügungsbetrieben und käuflichem Sex, die wegen ihres schlechten Rufs die spekulative Gentrifizierung bremste, entwickelte sich hier ein erst türkisches, dann allgemeiner muslimisch geprägtes Quartier, dem später Einwanderinnen und Einwanderer aus Schwarzafrika folgten. Diese Menschen bildeten und bilden in St. Georg ökonomisch-kulturelle Netzwerke als Trampolin für Glückssucher aus den Ländern südlich der EU. Und sie prägten den Steindamm mit ihren Vorstellungen von Geschmack, Status, Geselligkeit, Aussehen und Geschäftssinn. Und das ist schon viel schwieriger zu fotografieren, jedenfalls, wenn es nicht aussehen soll wie Dönerbuden-Klischees.
Vermutlich hilft es, wenn ein Augenmensch selbst diesen Weg von einem Geburtsland nach Deutschland gegangen ist, um Stolz und Würde in Momenten aufzuspüren, die im populären Kulturverständnis eher als Kitsch, Katastrophe oder Komödie rezipiert werden. Alexandra Polina, die 2005 mit ihrer Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge aus Usbekistan nach Deutschland übersiedelte, fand ihre erste Wohnung in der Stadt (soziologisch betrachtet nicht zufällig) auf eben jenem Damm, zu dem junge Gewohnheitsdeutsche höchstens ziehen, wenn sie Kunst als Beruf gewählt haben oder ihre Universitätsdisziplin mit etwas abenteuerlicher Aura ausbalancieren wollen.
Hier entwickelte Polina, die ihre universitäre Ausbildung in Bielefeld 2017 bei dem berühmten Ostmoderne-Fotografen Roman Bezjak abgeschlossen hatte, eine Berichtsabsicht vom Steindamm-Leben, die etwas vollkommen Anderes zeigt als die gängige Street Photography. Zunächst folgte sie noch transformativen Strategien einer inszenierten Objektkunst und sammelte bewusst oder unabsichtlich Entsorgtes vom Steindamm-Boden auf, um es zu bunten Abfallskulpturen zu komponieren. Diese komplexen Stillleben, die an dadaistische und kubistische Assemblagen in grell erinnern, empfand Polina trotz ihres künstlerischen Werts bald als zu formal und einengend.
Also stieg sie hinab in die Sorgenfalte der Stadtpolitik mit ihrer Camera und dem Willen zur Überwindung, um die Menschen selbst und ihre Sympathien zu porträtieren. Nicht ihre Dramen stellt sie dar, schon gar nicht voyeuristisch, sondern ihren Haut- und Fingerschmuck, ihren Ernst und ihr Lachen, ihre Symbole der Erinnerung und Beweise für subjektiven Wohlstand, also Porsche, Brilli und LOVE-Torte.
Die radikale Abkoppelung von der deprimierenden Einseitigkeit, mit der die Besucherinformation für dieses „Problemgebiet“ sonst illustriert wird, forciert Alexandra Polina allerdings nicht dadurch, dass sie grundsätzlich andere Motive wählt. Auch ihren „Steindamm-Atlas“ bevölkern die hier sichtbaren Menschen, ihre Orte und Attribute. Aber im Gegensatz zu allen Schnappschuss-Fotografen, die vielleicht eher das Delirium im Hauseingang, die maskulinen Gangs vor den grell leuchtenden Grill-Restaurants oder die Läden mit den türkischen Hochzeitskleidern als repräsentativ wahrnehmen, ist Alexandra Polina geduldig um ein anderes Kolorit bemüht.
Sie nimmt sich Zeit und den Willen ihrer Protagonistinnen und Protagonisten ernst, mit Äußerlichkeiten Eindruck zu schinden. Dafür setzt sie Licht und Farbe in einer Intensität ein, wie es die Pop Art nach der trüben abstrakten Nachkriegskunst getan hat. Das Affirmative von Werbemitteln als Bruch von Betrachtungsstandards, das damals vor allem Andy Warhol vorgemacht hat, findet sich wieder in der glamourösen Art, wie Polina ihren Kiez fotografiert. Allerdings geht es ihr nicht um kulturmarkttaugliche Verherrlichung von Prominenten und Produkten, sondern um ihre Zugewandtheit zu mitmigrierten Lebensstilen, wie sie es aus der eigenen Biografie kennt und wertschätzt.
„Ich werde hingezogen zu Dingen, die mich bereits geprägt haben“, sagt sie, und damit meint sie nicht nur das Echo von Stilen, die im zentralasiatischen Raum ihren Ursprung haben, sondern auch die Selbstverständlichkeit einer migrantischen Biografie, die sich weit vor ihrer eigenen Auswanderung über zwei Kontinente verzweigte. Jüdische, ukrainische, russische Familiengeschichte mischte sich mit der ihrer usbekischen Heimat, die Polina in zwei Kulturen des Totalitarismus trotzdem als multikulturell und interessant erlebt hat, jedenfalls in Taschkent, wo sie aufgewachsen ist. Und deswegen ist die Gleichzeitigkeit verschiedener Normen, die den Rhythmus der Straße in St. Georg bestimmen, für sie auch ein biografischer Anlass, deren Schönheit zu beweisen.
Stark aus der Nähe angeblitzt und dort positioniert, wo farbige Hintergründe im Straßenbild wie bunte Studiokartons wirken, verwandeln sich die Menschen des Steindamms und die Details ihrer Kultur in diesen Bildern in hyperästhetische Subjekte. Die Ketten an der schwarzen Hand vor einem Sonnenblumengelb haben als Hintergrund eine U-Bahn-Rolltreppe, die Porträts von Frauen und Männern mit stolz präsentierten Markenzeichen nahm Polina vor Geschäftsverkleidungen, dem Penny-Markt oder glänzenden Karosserien auf. Oder sie fokussiert sich auf Ladenobjekte der Begierde wie einem goldenen Flakon, an dem ein rotes Handy lehnt.
Die Straße als Studio, wie Alexandra Polina sie ganz praktisch nutzt, lässt formal tatsächlich keinen spürbaren Unterschied zu aufwändiger Kampagnenfotografie im Atelier erkennen. Ihre Menschen und Motive sind dargestellt wie Models und Markenbotschaften. Nur was sie verkaufen wollen, ist kein Fake. Es ist eine Botschaft von Selbstbestimmtheit. „Ich erzähle Geschichten des Erfolgs, von Leuten, die zeigen, dass sie etwas geschafft haben“, sagt Polina. Dass die Statuszeichen, die Menschen für ihren Stolz verwenden, wenn sie vorher nichts hatten, von wohlstandsverwöhnten Bürgern als Kitsch belächelt werden, ist ein Ansporn für die Fotografin, genau diese Abweichung von der Norm zu feiern. Alexandra Polina dokumentiert die Vielfalt der Traumerfüllung.
Anders etwa als Martin Parr, der vielleicht bekannteste Fotograf, der Straßenszenen mit Blitzlicht ins Grelle erhöht, interessiert sie sich nicht für eine Aktfotografie des Sozialen, die oft wie höhnisches Zurschaustellen von proletarischer Kultur wirkt, wenn auch verpackt in Ironie. „Ich möchte nicht von oben herab auf die Menschen schauen“, sagt sie, und diese Form der Augenhöhe braucht das Gespräch, bevor der Auslöser gedrückt wird. Polina spricht Passanten auf dem Weg in die Moschee und aus dem Pornoshop an, erklärt ihnen, was sie vorhat und auch, warum sie die betreffende Person als schön oder interessant bemerkt hat. Und dann trifft sie in der Regel auf große Bereitwilligkeit, sich von ihr inszenieren zu lassen. In einem Gebiet, das die meisten Fremden mit großem Misstrauen beäugen, findet Polina großes Vertrauen.
Und so entstehen diese läuternd untypischen Bilder, die so frei sind von Aggressionen und Abwehr, etwa wenn das Mitglied einer Motorradgang auf seiner Kawasaki in melancholisch verletzlicher Körperhaltung lehnt, die Rückenansicht einer Frau mit Kopftuch und rosa Handtasche wie ein Madonnenbildnis strahlt, oder eine verwarzte Verteilerbox mit einer Honigmelonenhälfte voller Zigarettenstummel im Blitzlicht so skulptural und wertig erscheint wie ein Porzellankunstwerk.
All diese Bilder vermitteln das warme Gefühl, „als ob auf dem Steindamm immer die Sonne scheint“, wie Alexandra Polina es treffend ausdrückt. Und zwar nicht nur die äußere, sondern auch eine von innen, die durch ihre Bilder beweisen kann, wie die Koexistenz auf dem Steindamm eine große soziale Strahlkraft besitzt. Man muss halt die Seelenlinse wechseln, um das auch zu bemerken. Eigentlich ganz leicht, oder?