Der Filmemacher Thomas Struck im Gespräch über seine Vater und dessen Philosophie der ungestellten Bilder
Interview: Ulrich Thiele
Herr Struck, fünf Jahre lag der Koffer Ihres Vaters bei Ihnen im Keller. Hat Sie nicht interessiert, was da drin ist?
Ach, das war ein typisch deutscher Prozess, der viel mit Verdrängung zu tun hat und damit, etwas nicht hochkommen lassen zu wollen.
Was wollten Sie nicht hochkommen lassen?
Es ist ein schmerzhafter Prozess, sich posthum mit seinen eigenen Eltern auseinanderzusetzen. Ich kann meinen Vater nicht mehr befragen. Das ist mein Versagen, mich nicht rechtzeitig mit ihm und seiner Vergangenheit beschäftigt zu haben. Das ist nichts Ungewöhnliches für unser Land. Es ist nicht entschuldbar, es ist, wie es ist. Der Auslöser kam letztendlich von außen. Ein Freund, der Fotograf ist, sagte: Das gucken wir uns jetzt an.
Wie haben Sie reagiert, als Sie den Koffer öffneten?
Mit Ekel. Die Negative waren in alte Nazi-Zeitungen eingewickelt – der „Völkische Beobachter“ vor allem, das Zentral-Blatt der Nazis. Das hat widerlich gestunken, uns kroch der Mief des Weltkriegs entgegen. Ich musste dann zunächst mit einem Scanner diese ungeordneten Negative durchforsten und ordnen, um überhaupt erst einmal einen Überblick zu gewinnen.
Was haben Sie dann in seinen Bildern gesehen?
Mein Vater war jemand, der aufgezeichnet hat. Und sein Aufzeichnungsmittel war eben die Kamera. Er war jemand, der visualisieren konnte und ein gutes Auge dafür hatte, wie er etwas so umsetzen konnte, wie er es sehen wollte. Ich kann das gut nachvollziehen, weil mein Beruf als Filmemacher durchaus in Beziehung zum Tun meines Vaters steht. So gesehen habe ich mich in den Bildern wiederentdeckt.
“Die Kamera war für ihn ein Emanzipationsapparat.”
Ihr Vater wird der Arbeiterfotografie zugerechnet. Woher kam seine Sympathie für die Arbeiter?
Er war ein Kind des Proletariats, sein Vater soll Gastwirt am neuen Pferdemarkt gewesen sein. Deswegen lag seine Sympathie nie bei der herrschenden Klasse. Die politische Entscheidung zwischen rechts und links war für ihn aber auch eine existenzielle Frage. Ich habe Briefe gefunden, in denen sichtlich wird, wie eng diese Frage für ihn mit der Frage nach dem Sinn des Lebens verbunden war. In den 1920ern schloss er sich einer Künstler- und Handwerker-Genossenschaft in Neuruppin an. Dort hat er zum ersten Mal gesehen, dass es genossenschaftliche Produktionsmöglichkeiten gibt. Dort hat er auch die Fotografie für sich entdeckt. Er war auch geprägt von der Idee der freien Liebe, er schloss sich als junger Mann einer Jugendbewegung an und lebte in einer kommunistisch angehauchten Kommune. Es gibt Briefe von ihm, in denen er über freie Liebe sinniert.
Was für eine Bildsprache hat er daraufhin entwickelt?
Seine Bildsprache ist geprägt von dynamischen Perspektiven. Das Wesentliche war für ihn das Erhaschen des Moments. Seine Philosophie war es, ungestellte Bilder zu machen. Er hat vor allem Abläufe und Geschichten fotografiert. „Neue Sachlichkeit“ ist ein Schlagwort, das ihm nachträglich aufgedrückt wird. Ich finde das in Ordnung, aber er hatte seinen eigenen Blick.
“Er ging nah an den porträtierten Menschen heran, aber wenn möglich auch viele Meter zurück, um ihn in seinem Kontext abbilden zu können. Einerseits im Raum, aber auch in der Zeit.”
Die Leute müssen ihn akzeptiert haben, immerhin haben sie ihn nah an sich herangelassen…
Nehmen wir als Beispiel den Arbeiter, der sich in der Elbe wäscht: Mein Vater hat ihn nicht unerkannt und heimlich fotografiert. Es handelt sich um eine Begegnung, auf beiden Seiten herrscht Akzeptanz. Ohne diese Gegenseitigkeit wäre das Bild nicht so ausdrucksstark. Es war sicherlich nicht angenehm, sich damals in der Elbe zu waschen, aber wahrscheinlich dachte sich der Arbeiter: Besser sich in der Elbe waschen, als sich gar nicht zu waschen. Und dann ist da noch die Solidarität des Kollegen, der ihm hilft, einzutauchen. Diese Atmosphäre konnte mein Vater einfangen, weil er immer auf Augenhöhe mit seinen Protagonisten war.
Seine Fotografien der Börse sind das Kontrastprogramm…
Da dokumentiert er das Kapital. Wie arbeiten die Kapitalisten? Er war akribisch darauf aus, möglichst viel von dem, was er gesehen hat, in den Kasten zu kriegen. Er war aber niemand, der das gleich in eine ideologische Botschaft umsetzen wollte. Ihm ging es erstmal darum, das festzuhalten.
Sie betonen, dass Sie beim Auspacken des Koffers den Staub auf den Fotografien gelassen haben. Warum?
Weil er Teil der Geschichte ist. Oder nehmen Sie die Glasnegative, sie haben unsaubere Ränder. Das Altonaer Museum hat sie drauf gelassen, was ich super finde – sie geben den Fotos eine historische Distanz, die gut tut.