Der Georg Koppmann Preis für Hamburger Stadtfotografie geht in diesem Jahr an das Gemeinschaftsprojekt „Hamburger Flachbauten“ von Peter Bruns und Claas Möller. Die Fotografen widmen sich darin mit dokumentarischem Blick einer Besonderheit des Hamburger Stadtbilds – den in der Nachkriegszeit entstandenen eingeschossigen Gebäuden.
Hamburger flachbauten
Von Sebastian Lux, Stiftung F.C. Gundlach
Ist man einmal auf sie aufmerksam geworden, sieht man sie plötzlich überall: Flachbauten an Straßenecken und in Häuserzeilen, eingebettet zwischen vier- und fünfgeschossige Blockrandbebauung. Sie gehören fest in unseren Lebensalltag, wurden aber nie als architektonische Besonderheit wahrgenommen: Der schnelle Frisör um die Ecke, die Kneipe mit dem guten Billardtisch, das Taschengeschäft, in dem die Kinder ihre ersten Schulranzen aussuchen durften, der American Diner mit den leckeren Pommes, die Spielhalle, in die man noch nie einen Menschen hat gehen sehen – sie alle führen ihre Geschäfte auffällig unauffällig in schlichten, ein- und zweigeschossigen Funktionsbauten.
Mit ihrer Werkserie „Hamburger Flachbauten“ haben Claas Möller und Peter Bruns uns die Augen für dieses städtebauliche Phänomen geöffnet und einen verschwindenden Bauwerkstypus ins Bild gesetzt. Im ganzen Stadtgebiet haben sie sie gefunden und fotografiert, ihre Perspektive dabei entweder frontal auf die Fassade gerichtet oder leicht diagonal in die Bildtiefe gestaffelt. Fast kann man die Aufnahmen als Charakterporträts beschreiben, als einfühlsame Bildnisse, die aus einem Dialog zwischen den Fotografen und ihrem Gegenüber entstanden ist. Jedes der Gebäude wird in seiner Individualität dargestellt, seine Nutzung wird anhand von Ladenbeschilderung und Schaufensterdekoration deutlich, seine Integration in den Stadtraum durch den alltäglichen Betrieb auf der Straße und die gelegentlichen Passanten angedeutet. Vor allem der Anschluss des porträtierten Bauwerks an die Bauten rechts und links wird durch Blickwinkel und Bildausschnitt hervorgehoben, die kahlen Brandmauern der höheren Nachbargebäude beispielsweise spielen in vielen Motiven eine zentrale Rolle für die Bildgestaltung.
Gemeinsam mit dem Fahrrad unterwegs, mit Stativ und kleiner Leiter haben sie an hellen Tagen bei bedecktem Himmel fotografiert und so über alle Motive hinweg eine vergleichbare Lichtsituation gefunden. Ihre Aufnahmen sind realistisch in der Farbigkeit und präzise in der Bildschärfe. Viele der Orte haben sie mehrfach fotografiert, bis Licht und Bildausschnitt stimmten. So haben sie eine Werkserie geschaffen, die sowohl ästhetisch ist, als auch dokumentarisch funktioniert. Es ist eine typologische Serie, eine spielerische Studie der Varianz im Ähnlichen.
Die Werkserie von Möller & Bruns ist allerdings in der Bildgestaltung weniger streng und in der Aussage weniger historisierend als beispielsweise die in Rastern aufgereihten Fördertürme und Hochöfen von Bernd und Hilla Becher, deren konzeptuelle Serien den letzten imposanten Zeugen von Kohle- und Stahlindustrie ein Denkmal gesetzt haben und treffend als „Bestandsaufnahme des Verschwundenen“ bezeichnet werden. Konzeptuell ist sie auch weniger kategorisch als beispielsweise „Every Building on the Sunset Strip“ von Ed Ruscha, der zwar viele Flachbauten zeigt, dessen Anspruch aber die Vollständigkeit ist. Die Ansichten der Hamburger Flachbauten von Möller & Bruns leben dagegen ebenso von ihrer visuellen Serialität, zugleich aber auch von der Selbstverständlichkeit des Hier und Jetzt, der alltäglichen Nutzung der Bauten und den menschlichen Erfahrungen drumherum. Ihre Werkserie ist Architekturbetrachtung, Zeitdokument und Sozialstudie zugleich.
Die Hamburger Flachbauten sind für die Fotografen nicht nur ein bauliches Phänomen, sie sind auch wesentlich für das Lebensgefühl, für die Stimmung eines Stadtviertels. Für Claas Möller hat das viel mit der Sichtbarkeit des Himmels über den niedrigen Bauten zu tun, mit dem Freiraum, der besonders auffällt, wenn er im Zuge der architektonischen Nachverdichtung der Stadt verschwindet. Auch für Peter Bruns steht die Faszination für die Stadtsilhouette als Motiv im Vordergrund, andererseits der Anspruch, Veränderungen im Stadtbild dokumentieren zu wollen. Neben den architektonisch gestalteten Raum tritt in den Bildern der beiden Fotografen so die zeitliche Komponente, die sich nicht nur an der historischen Einordnung der Bauten ablesen lässt, sondern auch durch die Andeutung von bereits erfolgter oder zu erwartender Veränderung. Denn im Zuge nachhaltiger Stadtentwicklung geraten die provisorischen Lückenfüller zunehmend unter Druck. Zusätzlicher Wohnraum soll durch Aufstockung geschaffen werden, die effiziente Ausnutzung städtischen Baulands wird zur Maxime, wie sie beispielsweise in einer städteplanerischen Studie von 2006 mit dem sprechenden Titel „Entwicklung von umsetzungsorientierten Handlungsschritten zur Mobilisierung von Baulücken und zur Erleichterung von Nutzungsänderungen im Bestand in Innenstädten“ beschrieben wird.
Im Zuge dieses, vor allem als Maßnahme gegen den Flächenfraß an den grünen Rändern der Stadt sinnvollen Umdenkens, sind viele Flachbauten schon verschwunden. Das Restaurant Luxor in der Schanze, das Machwitz an der Max-Brauer-Allee, Auch tonton, der Blumenladen an der Hoheluftchaussee, in dem Fotograf und Stifter F.C. Gundlach wöchentlich seinen Blumenschmuck und gebundene Sträuße für seine vielen Besuche bei Freunden und Bekannten kaufte, ist geschlossen und wird demnächst sicherlich durch eine Bebauung auf Traufhöhe der Nachbargebäude ersetzt. Der Teeladen gegenüber aber, der Gundlachs liebste Teemischung führt, bleibt bestehen, und auch für den Musikclub Logo besteht Hoffnung. Es ist ein Bewusstsein entstanden für die Rolle der Flachbauten, im Lebensalltag der Menschen und in der Stadtsilhouette. So heißt es in der Begründung zum „Erlass einer Städtebaulichen Erhaltungsverordnung gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB“ zur Entwicklung der Billstedter Hauptstraße von 2016: „Teilweise sind 1- bis 2-geschossige Gebäude vorhanden, die eine planungsrechtlich mögliche 4- bis 5-geschossige Bauweise derzeit noch nicht ausschöpfen. Deshalb besteht die Gefahr, dass die städtebauliche Eigenart des Quartiers durch den Abriss oder die Überformung erhaltenswerter und das Ortsbild prägender bzw. den Neubau nicht ortsbildprägender Gebäude negativ beeinträchtigt wird. […] Ziel ist damit nicht der Schutz einzelner Gebäude wegen ihres Eigenwerts, sondern die Erhaltung des Gesamtbildes der Siedlung aufgrund ihrer städtebaulichen Eigenart.“
Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher Entstehungskontexte von Flachbauten in Hamburg, von denen hier nur ein paar vorgestellt werden sollen. Da sind zum einen solitäre, ein- und zweigeschossige Bauten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die zunächst am Stadtrand lagen und im Zuge des Baubooms der Gründerzeit um 1900 von Neubauten mit fünf Wohnetagen als lückenlose Blockrandbebauung umschlossen wurden.
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts und verstärkt im Neuen Bauen seit den 1920er Jahren wurden neu erbauten Wohnkomplexen aber auch explizit eingeschossige Zwischenund Randbebauungen zugeordnet. Ziel war eine aufgelockerte Bauweise mit eingeschossigen Ladenpassagen, schon damals ging es um Lichte und Luftigkeit im Stadtbild – flapsig ausgedrückt ging es um den Himmel über dem Flachbau. Stilistisch wurden diese eingeschossigen Ergänzungsbauten den Gebäudeensembles entsprechend gestaltet – Backstein für das Backsteinviertel an der Alsterdorfer Straße von Architekt Richard Wagner, helle Putzfassaden für die Passagen an der Osterstraße von Architekt Karl Schneider.
In den 1950er und 1960er Jahren wurde diese Bauweise noch einmal aufgegriffen, prominentestes Beispiel ist vielleicht der inzwischen abgerissene City-Hof am Klosterwall, der epochentypisch den Rhythmus von Freiraum und Baukörper zum Konzept hatte. Seine vier schmalen, parallel ausgerichteten Scheibenbauten waren durch ein Band von Flachbauten als Sockelzone verbunden, in der gewerbliche und soziale Gemeinschaftsnutzung vorgesehen waren.
In der Werkserie „Hamburger Flachbauten“ spielen diese architektonisch gestalteten, als Teil von Ensembles errichteten Bauten kaum eine Rolle. Zeitgleich wurden aber nach 1945 viele Baulücken, die durch die Bombardierung der Stadt während des 2. Weltkriegs entstanden waren, mit ephemeren Interimslösungen bebaut. Schaut man sich die interaktive „Schadenskarte der Stadt Hamburg“ (www.arnewitte.de/SchadenskarteLeaflet/index.html) an, die sehr anschaulich einen Vergleich der bis 1945 aufgezeichneten Schäden und des heutigen Stadtplans ermöglicht, erkennt man sofort die Orte, an denen Neubauten notwendig waren und die zum Teil schnell und einfach für flache Zweckbauten genutzt wurden. Sie ergänzten die reparaturbedürftige Stadtstruktur und etablierten sich dann als dauerhafte Provisorien. Vor allem auf diese Bauten haben Möller & Bruns ihr Objektiv gerichtet. Günstig in Miete oder Pacht bieten sie bis heute einer Vielfalt typisch urbaner Nutzungen Raum. Farbenfroh und lebendig sind sie aber nicht nur durch die Leuchtreklamen von Dönerbuden und Second-Hand-Läden. Denn die Brandmauern der höheren Nachbargebäude bieten nicht nur für Plakatwerbung Platz, sie laden auch Graffitikünstler aller Couleur ein, die kahlen Flächen zu gestalten. Neben aufwändigeren Wandmalereien haben sich Moses und Gzuz hier verewigt, und viele mir unbekannte Sprayer und Tagger, die das praktische Dach des Flachbaus als Arbeitsort und die Brandwand darüber als weithin sichtbare Leinwand für ihre Werke nutzen.
Diese Details machen die Einzelbilder von Claas Möller und Peter Bruns zu empathischen Milieustudien innerhalb der konzeptuell angelegten Werkserie, sie laden zum genauen Hinsehen ein und machen einfach Spaß.
Die Fotografen:
Peter Bruns und Claas Möller: „Rasant verschwinden die skurrilen und oft trotzig wirkenden Flachbauten aus dem Stadtbild. Diesen für uns optisch reizvollen „Zahnlücken“ wollen wir ein fotografisches Denkmal setzen. Wir freuen uns auf die architektonische Entdeckungsreise quer durch die Stadt.“
Peter Bruns ist neben seiner Arbeit als freier Fotograf seit 1996 als Tischlermeister am Thalia Theater tätig.
Claas Möller ist Diplom-Designer und arbeitete als Grafiker im Steidl-Verlag in Göttingen. Seit 2008 ist er als Buchgestalter und freischaffender Fotograf tätig.
Beide Preisträger sind Mitglieder der Fotografengruppe „LANDMARKer“ und des Berufsverbandes „Freelens“.
DIE JURY:
Karen Pein, Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen: „Die Fotografen Peter Bruns und Claas Möller rücken mit ihrem Projekt über Hamburger Flachbauten einen Typus Architektur in den Fokus, der beispielhaft für die Phase des Wiederaufbaus steht. Über mehrere Jahrzehnte haben diese Gebäude als ‚Brüche‘ im Hamburger Stadtbild überdauert, obwohl sie nach der reinen Lehre einer Stadtreparatur gestalterisch weichen müssten. Mit Blick fürs Detail und außergewöhnlicher dokumentarischer Handschrift halten die beiden Preisträger diese ‚Zahnlücken‘ des Städtebaus fotografisch fest und stellen die Frage nach dem Umgang mit dem Bestand in Hamburg als einer sich stetig wandelnden Metropole. Ich gratuliere den beiden Preisträgern herzlich zum Georg Koppmann Preis 2024 und freue mich auf die Ergebnisse ihrer Arbeit.“
Prof. Dr. Hans-Jörg Czech, Vorstand und Direktor der SHMH: „Beim typischen Hamburger Stadtbild denken wir oft zunächst an die Backstein-Architektur Fritz Schumachers, an elegante Gründerzeithäuser oder an moderne Hotel- und Geschäftsgebäude. Doch bei genauerem Hinschauen fallen einem in fast allen Stadtteilen eingeschossige Gebäude auf, mit denen im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg Baulücken geschlossen wurden. Diese Flachbauten wirken häufig wie Fremdkörper, zeugen aber von einem signifikanten Kapitel der Hamburger Stadtgeschichte. Peter Bruns und Claas Möller verfolgen mit ihrem Gemeinschaftsprojekt den spannenden Ansatz, diese besonderen Provisorien auf fotografisch-künstlerische Weise ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Auf die Ergebnisse des Projekts, das ganz im Sinne unseres Georg Koppmann Preises ist, bin ich sehr gespannt.“