Der Georg Koppmann Preis für Hamburger Stadtfotografie des Jahres 2022 geht an den Hamburger Fotograf Markus Dorfmüller. Sein Projekt Koloniales Hamburg setzt sich mit den verbliebenen Spuren kolonialer Verflechtungen im Hamburger Stadtbild sowie in den Depots und Archiven von Hamburger Museen auseinander. Die große und hochaktuelle erinnerungspolitische Relevanz von Dorfmüllers Projekts war ausschlaggebend für die Entscheidung der Jury des Preises, den die Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen und die Stiftung Historische Museen Hamburg gemeinsam jährlich vergeben.
Koloniales Hamburg
Von Julia Wadhawan, Freie Journalistin, Hamburg
Als der gelbe Kran über Otto von Bismarcks Kopf schwenkt, frage ich mich, was der erste Reichskanzler von da oben wohl sehen kann. Die Elbe, das ist sicher. Vielleich reicht sein Blick sogar bis in die Nordsee und von da in die Welt. Ob er merkt, dass die Welt endlich auch zurückschaut?
Ein Graffitizaun versperrt mir die Sicht auf den Sockel des 34 Meter hohen Denkmals. Die Granitfigur droht umzukippen, deshalb wird sie saniert. Abgerissen sollte sie auch schon werden, stattdessen wurde sie unter Denkmalschutz gestellt. Erst ging es um die Frage, wer die Sanierung finanziert. In den letzten Jahren ist daraus eine Grundsatzdebatte über die Deutung der Vergangenheit geworden. Anders formuliert: Wem oder was gedenken wir hier eigentlich genau? „Bismarck hat doch die ersten Sozialgesetze erlassen“, sagt Jörg, der an diesem Nachmittag zufällig mit mir den Hügel im Alten Elbpark hochgelaufen kam. Ob er auch was über seine Rolle in der deutschen Kolonialgeschichte wisse, frage ich. Er überlegt kurz. „Nein“.
Guter Zeitpunkt für einen Perspektivenwechsel. Ich bin auf einer Stadttour durch Hamburg. Meine Karte sind die Bilder von Markus Dorfmüller, dem diesjährigen Gewinner des Georg Koppmann Preises. Der Fotograf hat dem kolonialen Erbe der Hansestadt nachgespürt und zeigt, wie sehr es die Identität der Stadt bis heute prägt. Wie leicht es ist, es zu übersehen. Und wie unmöglich, hat man einmal hingeschaut.
Unsichtbare Vergangenheit
Markus Dorfmüller, 1961 geboren, kommt eigentlich aus dem Rheinland und lebt seit fast 40 Jahren in Hamburg. Hauptberuflich fotografiert er Architektur. Auch in seinen eigenen Projekten erzählt er die Geschichten einer Gesellschaft am liebsten über ihre Bauwerke und Fassaden: die Reeperbahn bei Tag, die sich permanent verändert. Oder: Zwangsunterkünfte für Geflüchtete in Deutschland.
Der Hamburger Kolonialgeschichte lief er vor Jahren in Hamburg-Jenfeld über den Weg, bei einer Führung durch die ehemalige Lettow-Vorbeck-Kaserne. Von den Nazis gebaut, hängen an den denkmalgeschützten Gebäuden bis heute die Namen und Konterfeis von Hermann von Wissmann, Paul von Lettow-Vorbeck und Lothar von Trotha. Einst als Kolonialhelden gefeiert, gelten sie heute als Kriegsverbrecher. Trotha hat im heutigen Namibia den Genozid an bis zu 70.000 Herero und Nama befohlen, um die Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ zu verteidigen. Eine kleine Tafel erinnert zwar an die grausame Vergangenheit. Ihre Spuren so demonstrativ vorzufinden, fand Dorfmüller trotzdem: krass. Ein bisschen Recherche genügte, um zu verstehen, dass sich das koloniale Erbe wie ein Netz über Hamburg legt. „Die Stadt ist ihr eigenes Museum“, sagt Dorfmüller. Ein Museum, das für die meisten noch immer unsichtbar ist.
Prominentestes Objekt dieses Museums ist sicherlich Otto von Bismarck, an dessen Sockel ich meine eigene kleine Tour starte. Als Reichsgründer wurde er von vielen verehrt. Aus der Kolonialpolitik wollte er sich raushalten, um Konflikte mit den Nachbarn zu vermeiden. Trotzdem blühte der Kolonialhandel unter seiner Herrschaft. Trotzdem richtete er 1884 die Kongokonferenz in Berlin aus, die heute als Grundlage für die Aufteilung Afrikas gilt. Prominenz hat auch das Deutsch-Ostafrika-Kriegerdenkmal, das ebenfalls in Jenfeld steht. Gebaut wurde es von den Nazis, um die deutschen Schutztruppen zu ehren und gleichzeitig die Treue der afrikanischen Askari-Soldaten zu ihren ‚Kolonialherren‘ zu beweisen. Seit 20 Jahren wird darüber diskutiert, was damit passieren soll. Oder die Gedenkplatte im Hamburger Michel, die an die deutschen Gefallenen der Kolonialkriege in China und Afrika erinnert. Kein Wort über die Zivilist*innen, die im Namen der Kolonialmacht umgebracht wurden.
Es ist die wichtigste Übung unserer Zeit: die Vergangenheit neu zu betrachten, um die Zukunft besser zu gestalten. Deswegen geben Museen Benin-Bronzen zurück, benennen Städte ihre Straßen um, werden Denkmäler gestürzt. Deswegen hat die Universität Hamburg 2014 die Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe geschaffen. An einem Ort, an dem vor über 100 Jahren noch das Hamburgische Kolonialinstitut stand. Es ist vor allem der Zivilbevölkerung zu verdanken, dass Hamburg sich der „kolonialen Amnesie“ stellt, die das kollektive Gedächtnis in der Zwischenzeit befallen hat. So nannte es der Leiter der Forschungsstelle, Jürgen Zimmerer. Bürgerinitiativen organisieren Stadtführungen, Wissenschaftler*innen schreiben Sammelbände, die Stadt fördert Kunstprojekte. Ohne die Bilder von Dorfmüller in der Tasche und Google auf dem Handy bliebe ich auf meiner Tour trotzdem ahnungslos. Die koloniale Reflexion findet nach der Anerkennung ihrer Bedeutung nur zögerlich ihren Weg in Hamburgs Stadtbild.
Koloniale Nostalgien
Von Bismarck bin ich den Venushügel hinunter direkt zum Hafen und damit ins Herz der (kolonialen) Identität Hamburgs gewandert. Am Baumwall, wo Schüler*innen in Hoodies und weißen Turnschuhen mit ihren Klassen die Straße kreuzen, steht das Slomanhaus. Typisch hamburgische Rotklinker-Architektur. Eine Messingklappe erinnert daran, wo einst Depeschen eingeworfen wurden. Rob. M. Sloman ist die älteste deutsche Reederei, Pionier der Linienschifffahrt. Eine Tafel erklärt, wer das Haus erbaut hat, benennt die Architekten. Was dort nicht steht ist, dass Deutschland zahlreiche Gebiete in Afrika, der heutigen Volksrepublik China und auf mehreren Westpazifikinseln kolonialisierte, deren Einwohner*innen ausbeutete und umbrachte. Was auch nicht dort steht: Wie reich Hamburg dadurch wurde.
Die hanseatische Kaufmannsehre. Der Hafen: Tor zur Welt. Die Speicherstadt, UNESCO-Weltkulturerbe. Der Reichtum und die Weltoffenheit der Stadt mit den meisten Millionären Deutschlands bleibt eine Erfolgsgeschichte in unzähligen Variationen – und eine koloniale Nostalgie. Auch wenn der ehrenwerte Kaufmann die Ausbeutung ganzer Völker hinnahm, damit er in den Kontorhäusern die Schätze der Welt umschlagen konnte. Auch wenn vom Baakenhafen aus Soldaten verschifft wurden, um Einheimische in deutschen Kolonien zu bekämpfen.
In der HafenCity gehört die Nostalgie zur Identität der Zukunft. Am Sumatrakontor vorbei die Tokiostraße entlang weht mir die Erzählung kosmopolitischer Freiheit um die Nase. Eine Freiheit, die immer schon nur wenigen zuteil wurde.
„Planet.People.Profit“, lese ich auf der fünf Meter hohen Kaffeebohne aus Bronze. Die Skulptur auf dem Coffee Plaza soll Hamburgs Tradition als Kaffeehandelsplatz ehren. „Profit“ hat die österreichische Künstlerin Lotte Ranft mit „nachhaltiger Wirtschaft“ übersetzt. Darunter steht: „Über 1 Mrd. Menschen trinken täglich 3 Mrd. Tassen Kaffee, die 25 Mio. Familien in 70 tropischen Ländern ihre Existenz bieten“, und ich möchte gern fragen: Wer bietet hier eigentlich wem seine Existenz?!
Der Blick auf die Anderen
Colonial Gaze, European Gaze, Western Gaze – es gibt einige Bezeichnungen für immer gleiche Perspektive, die unsere Welt in eine Hierarchie einteilt: Wir und die Anderen. Die Kamera ist ein wichtiges Werkzeug in dieser Erzählung. Waren es doch die Entdecker, Eroberer, die ihren Blick auf das Exotische, das Andere, festhielten und damit die Macht der Wahrnehmung wie selbstverständlich an sich nahmen.
Als Markus Dorfmüller den Überseeboulevard in der HafenCity ablief, wurde ihm klar, wie wenig sich an dieser Sicht geändert hat. „Colors of Humanity“ hieß die Ausstellung, die er dort vorfand. Ein deutscher Portrait- und Reisefotograf zeigte eine „kunterbunte Welt“ der Menschen und Länder, denen er auf seinen Reisen begegnete. Für Dorfmüller wirkte es wie eine Fortführung der Völkerschauen, wie sie auch Hagenbecks Tierpark veranstaltete.
Wie schön es wäre, zur Abwechslung die Arbeiten jener Fotograf*innen zu sehen, die aus diesen kunterbunten Welten kommen. Sie sich selbst erzählen zu lassen. „Wer hat das Recht, den Anderen auszustellen?“ hat die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie bei der Eröffnung des Humboldt-Forums gefragt.
Statt auf die Anderen zu blicken, sich ihrer Stimmen zu bedienen, richtete Markus Dorfmüller den Blick daher zurück. Er hält der Stadt einen Spiegel vor, auf dass sie sich darin neu betrachtet.
Kritischer Umgang mit der Wirklichkeit
Ich komme aus dem Staunen jedenfalls nicht mehr heraus. Seit ich die Brille der kolonialen Vergangenheit aufgesetzt habe, sehe ich sie überall. Vom Überseeboulevard bin ich in die Innenstadt gelaufen. Gegenüber Handelskammer und Rathaus finde ich das Ernst Brender Geschäft für Marine- und Tropenausrüstung. Zum Safarianzug in Beige gibt es Panamahüte (95 Euro) oder auch Opossumschals (75 Euro), drapiert vor der deckenhohe Leinwand eines Elefanten. Dazu ein historischer Reisebericht von 1907. „Durch das südliche Afrika mit einem Kraftwagen.“ In Namibia gedruckt. Völlig unkommentiert wirkt es wie ein Verkleidungsgeschäft für Kolonialnostalgiker.
Ein paar Laufminuten weiter steht das Afrikahaus, gebaut von der Firma C. Woermann. Der Kaufmann und Reeder Adolph Woermann hatte Bismarck maßgeblich davon überzeugt, Kolonialmacht zu werden. Mit dem Handel von Palmöl, Kautschuk oder Kaffee wurde er reich, alles auf Kosten von afrikanischen Zwangsarbeiter*innen. Vor diesem Hintergrund wirkt die lebensgroße Figur eines afrikanischen Kriegers vor dem weiß gefliesten Rundbogen des Afrikahauses mindestens höhnisch. Hinten im Hof flankieren zwei türhohe Elefanten den Hauseingang. Im Restaurant nebenan kauen Männer – ja, es sind an diesem Abend wirklich ausschließlich Männer – Wagyu Ribeye-Steaks für 87 Euro. Die Lampenkonstruktionen über ihnen sehen aus wie aus Holz angefertigte Stoßzähne von Elefanten. Für einen Moment habe ich das Gefühl aus der Zeit gefallen zu sein. Aber so ist das mit der Vergangenheit: Oft ist sie so präsent, dass wir sie gar nicht bemerken.
Eine Tafel an der Außenfassade, direkt daneben, erinnert an die Bauherren des Gebäudes, an die Architekten. Kein Wort zu den Menschen, die dafür mit ihrer Freiheit, Würde und ihrem Leben bezahlt haben. Kein Wort über die Ungerechtigkeiten, die bis heute die Strukturen der Welt bestimmen.
Ihn treibe ein „kritischer Umgang mit der Wirklichkeit“ an, hat Markus Dorfmüller gesagt.
Deswegen sei ihm das Zitat von Walter Benjamin so wichtig. Weil ein schönes altes Haus immer mehr ist als das. Weil wir die Welt anders sehen, wenn wir hinter die Dinge blicken. Mit dem Hinschauen fängt es an.
„Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei
ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist.“
Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, These VII
















Grabstein von Carl Woermann, gest. 25.7.1880, auf dem Ohlsdorfer Friedhof.





















Koloniales Hamburg
Fotografiert von Markus Dorfmüller

1985–1995 Studium der Visuellen Kommunikation an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg
1987–1992 Mitglied der Druckgruppe der Roten Flora, Hamburg
2003–2004 Studium bei Arno Fischer, Berlin 2004 Gründungsmitglied des Kunstvereins „Feld für Kunst”, Hamburg
Seit 2010 Architekturfotografie zusammen mit Johanna Klier
Bearbeitete in den letzten Jahren Projekte zu folgenden Themen: Hochalpenindustrie, Bundesstrasse 73, G20 Gipfel Hamburg 2017, Widerstand im Rheinischen Braunkohlerevier, Entwicklung der Hafencity Hamburg
Publikationen:
B73, adocs verlag 2015,
ISBN 978-3-943253-12-2
Lob der Polizei, adocs verlag 2021, ISBN 978-3-943253-42-9
lebt in Hamburg
Weitere Informationen unter www.markusdorfmueller.eu