Der Georg Koppmann Preis für Hamburger Stadtfotografie des Jahres 2021 geht an die Fotografen Sabine Bungert und Stefan Dolfen. In der Jurysitzung zum gemeinsam von der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen (BSW) und der Stiftung Historische Museen Hamburg (SHMH) vergebenen Fotopreises wurde das Projekt „Der Raum ist der dritte Lehrer“ aus den Bewerbungen ausgewählt.
„Der Raum ist der dritte Lehrer“ Fünf Hamburger Schulbauten, fotografiert von Sabine Bungert und Stefan Dolfen
Einführung von Robert Uhde, Architekturjournalist und Autor
Schulräume sind Lebensräume, in denen Schüler und Schülerinnen einen großen Teil ihrer Zeit verbringen. Räume, in denen wir entscheidend geprägt und sozialisiert werden. Kein Wunder also, dass die Jahre der Schulzeit später vielfach als die wichtigsten im ganzen Leben beschrieben werden. Wer daran zurückdenkt, der erinnert sich jedoch meist weniger an mathematische Formeln, an Details zur englischen Grammatik oder an konkrete Geschichtsdaten. Was vor unserem inneren Auge auftaucht, das sind stattdessen eher die ehemaligen Mitschüler, Lehrer und Lehrerinnen. Oder auch flüchtige Bilder von Räumen, Oberflächen, Objekten und Gerüchen: Ganz plötzlich kommen uns zum Beispiel der muffige Umkleideraum oder die alte Aula mit ihren riesigen Türen in den Sinn. Die von Kinderrufen erfüllte Turnhalle mit den großen Medizinballen und den grau-blauen Gummimatten, das frisch gebohnerte Linoleum auf den Schulgängen, zerkratzte Tischplatten, Kaugummi unter den Holzstühlen oder Graffiti in den Waschräumen.
Fast jeder von uns trägt solche oder ähnliche Raum- und Sinneseindrucke der eigenen Schulzeit in sich. Manche davon rufen Gefühle von Geborgenheit und Glück hervor, andere lösen eher Angst oder Beklemmung aus. Wer will, der kann diese Bilder als reine Hintergrundkulisse für den eigentlichen Lehrplan abtun. Der italienischen Reggio-Pädagogik verdanken wir allerdings die Erkenntnis, welch große Bedeutung die Gestaltung von Schulräumen und Klassenzimmern auf unser soziales und kognitives Lernen hat. Ihr Gründer Loris Malaguzzi ging sogar soweit, den Raum als den „dritten Lehrer“ zu betrachten, der neben den anderen Kindern und den Erwachsenen/Pädagogen als dritte Säule zum Lernerfolg beiträgt.
Aber was macht eigentlich den Charakter dieser Lernorte aus, die uns so stark prägen und geprägt haben? Wie sehen sie heute aus, wie haben sie vor zwanzig, fünfzig oder hundert Jahren ausgesehen? Die beiden Fotografen Sabine Bungert und Stefan Dolfen sind dieser Frage nachgegangen und haben für ihre Reihe „Der Raum ist der dritte Lehrer“ fünf Hamburger Schulen aus unterschiedlichen Epochen ausgewählt. Die Bandbreite reicht vom 1914 fertiggestellten Johanneum und der Grundschule Mendelssohnstraße (1953-1965) über das Christianeum (1971) und die Stadteilschule Mümmelmannsberg (1972) bis hin zur Stadtteilschule Lurup (2020).
100 Jahre Schularchitektur in Hamburg: Von der Gelehrtenschule des Johanneums bis zur Stadtteilschule Lurup
Wer die Gelehrtenschule des Johanneums betritt, der spürt bis heute die lange Tradition und den würdevoll repräsentativen Charakter der Einrichtung. Die humanistische Lehranstalt im Stadtteil Winterhude wurde 1529 gegründet und ist damit das älteste Gymnasium Hamburgs. 1914 zog die Schule in ihren heutigen Gebäudekomplex in der Maria-Louisen-Straße um. Der markant gestaltete und funktional überaus durchdachte Klinkerbau war seinerzeit nach Plänen des renommierten Hamburger Architekten und Mitbegründer des Deutschen Werkbundes Fritz Schumacher entworfen worden, der in seiner Jugend selbst das Johanneum besuchte. Seit 1979 steht das Gebäude unter Denkmalschutz. Zu den prägenden Details im Innenraum zählen insbesondere die zehn klassisch-antiken Büsten in der Eingangshalle oder die Ansicht des prachtvoll gestalteten Treppenhauses. Ganz unwillkürlich schwingt dabei auch ein Gefühl von Ehrfurcht mit, das sich deutlich vom Prinzip gleicher Augenhöhe in zeitgenössischer Schularchitektur unterscheidet. Eine ungewöhnliche Perspektive bieten die Fotos der Aula, in der im Zuge der Corona-Einschränkungen zuletzt auch Klassenarbeiten geschrieben wurden. Die Schulbänke neueren Datums wirken mit ihrer modernen Farbgebung und vor dem Hintergrund der imposanten Raumhöhe fast verloren. Der offensichtliche Bruch zeigt einerseits den Ausnahmecharakter der Situation auf, belegt aber auch, dass mittlerweile eine andere Pädagogik in den historischen Räumen Einzug gehalten hat.
Deutlich offener und leichter, wie eine Ansammlung von Pavillons in einem Park wirkt im Vergleich die zwischen 1953 und 1965 in mehreren Abschnitten fertiggestellte Schule Mendelssohnstraße in Hamburg-Bahrenfeld. Das Gebäude geht zurück auf den Architekten Paul Seitz, der in seiner Amtszeit als Erster Baudirektor der Stadt zahlreiche Schulen und Hochschulgebäude vor Ort realisiert hat und dessen Entwürfe bis heute als stilprägend für die Architektur der frühen Nachkriegsmoderne gelten. Charakteristisch für die Schule Mendelssohnstraße ist insbesondere die aufgelockerte und modulare Bauweise in Kombination mit einer zurückhaltend-funktionalen Ästhetik, die überwiegend mit den Materialien Glas, Klinker und Holz umgesetzt wurde. Auffällig ist außerdem die harmonische Einbettung in das umgebende Wohnquartier. In deutlichem Kontrast dazu stehen die in direkter Nachbarschaft vor wenigen Monaten neu errichteten Mehrfamilienhäuser, die sich mit ihren weiß verputzten Fassaden deutlich von ihrem Umfeld abheben.
Wie ein futuristisches Raumschiff, umgeben von gediegenen Villen, präsentiert sich demgegenüber das Christianeum im Stadtteil Othmarschen. Das altsprachliche Gymnasium besteht bereits seit 1738, seit 1971 ist die Schule in einem Neubau der dänischen Architekten Arne Jacobsen und Otto Weitling an der Otto-Ernst-Straße ansässig. Charakteristisch für den funktionalistischen Bau ist die transparente Glasfassade in Kombination mit der markanten Tragstruktur aus Stahlbeton. Im Inneren dominiert eine klare Linienführung im Zusammenspiel mit einem auffällig bunten Farbspektrum, das von Gelb- und Sandtönen an den Wänden über Rot, Blau und Petrol an Türen und Geländern bis hin zu dunkelgrauen Fensterumrahmungen reicht. Ebenso stammen auch zahlreiche Einrichtungsgegenstände und Details in dem denkmalgeschützten Gebäude aus der Feder von Arne Jacobsen. Die gezeigten Fotografien belegen diese Einheit von Architektur, Mobiliar und Oberflächen und beschreiben so die ursprüngliche Intention des Architekten. Ebenso sichtbar wird aber auch die charmante Patina, die die Schule nach rund fünfzigjähriger Nutzung auszeichnet.
Aus der gleichen Zeit wie das Christianeum stammt auch die farbenfroh in orange und blau gestaltete Stadteilschule Mümmelmannsberg. Der 350 Meter lange, nach Plänen einer Arbeitsgemeinschaft von Graaf & Schweger mit Jacob Bakema und Jos Weber errichtete Komplex wurde 1972 als Ganztagsschule in der komplett am Reißbrett entstandenen Großwohnsiedlung Mümmelmannsberg eröffnet. Charakteristisch für das architektonische Konzept sind vor allem die auffälligen Stilelemente der frühen 1970er-Jahre, darunter die serielle Gesamtstruktur des Gebäudes, das kontrastreiche Farbkonzept oder die großzügigen Innenräume, die sinnbildlich für den bildungspolitischen Aufbruch der Zeit stehen. Und auch heute noch wird in der Stadteilschule Mümmelmannsberg der Anspruch einer „Schule für Alle“ inmitten eines sozialen Brennpunktes lebendig fortgeführt. Ganz gezielt sollen dabei auch die Leistungsbereitschaft und die individuelle Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler gestärkt werden, um sie bestmöglich auf hochqualifizierte Berufe oder Studiengänge vorzubereiten.
Wie eine lichtdurchflutete Kathedrale wirkt im Vergleich die erst im vergangenen Jahr fertiggestellte Stadtteilschule Lurup. Der nach Plänen von Behnisch Architekten ausgeführte Bau führt die bislang an drei Standorten ansässige Schule unter einem Dach zusammen. Als zentraler Anlaufpunkt und als kommunikativer Ort der Begegnung fungiert dabei das luftige Foyer, an das Mehrzweckraum, Speisebereich, Mediathek und die im Untergeschoss liegenden Sporthallen angrenzen. Ebenfalls im Neubau untergebracht ist die Community School mit zusätzlichen Angeboten der Jugendarbeit und der Erwachsenenbildung, die aus der Schule kurzerhand ein Stadtteilzentrum nach skandinavischem Vorbild macht. Betont wird der integrative Ansatz durch eine betont offene und freundliche Gestaltung mit hellen Farben sowie durch flexibel nutzbare Möbel. So gibt es beispielsweise integrierte, mit besonderen Sitzmöbeln gestaltete Wandflächen, die gleich mehreren Funktionen gerecht werden können.
Mit dem soziologisch-dokumentarischem Blick
Alle fünf Schulen sind nach den jeweils geltenden DIN-Vorschriften und Schulbaurichtlinien entworfen worden. In der Konzentration der unterschiedlichen Fotografien entsteht somit ein umfangreiches Kaleidoskop, das neben architektonischen, städtebaulichen und baugeschichtlichen Konzepten hinaus auch einen interessanten Blick auf die jeweils geltenden pädagogischen Ideale bietet. Dieser soziologisch-dokumentarische Blick findet sich auch in anderen Arbeiten von Sabine Bungert und Stefan Dolfen. Seit 2010 arbeiten die beiden gemeinsam an fotografischen Themen, die sich mit der Entwicklung von Stadträumen, Peripherien, dörflichen Strukturen und Landschaften aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen beschäftigen.
Mit der gleichen Intention haben sich die beiden Fotografen auch dem Projekt „Der Raum ist der dritte Lehrer“ angenähert. Die Architektur selbst spielt dabei nur vordergründig die entscheidende Rolle. Entsprechend werden die ausgewählten Klassenzimmer, Sporthallen, Gänge, Wartebereiche oder Aulen nicht nur im Genre der klassischen Architekturfotografie dargestellt, sondern gleichzeitig auch im Hinblick auf die Gestaltung von Flächen, Materialien, Farben, Formen und Oberflächen befragt. Parallel dazu lenken Sabine Bungert und Stefan Dolfen den Blick auf Alltägliches, auf unbemerkte Details oder auf scheinbar Nebensächliches. Bisweilen zeigen sich auch offene oder eher subtile Brüche zwischen gestern und heute. Die Nutzung und Abnutzung von Gegenständen, Wänden und Böden wird dabei ebenso sichtbar wie die Raum- gestaltung und die Raumumgestaltung, die sich aus der Nutzung entwickelt und sich im Laufe der Jahre beiläufig ergeben hat. Im Zusammenspiel verdichten sich die verschiedenen Ebenen zu vielfältigen Ansichten und Perspektiven, die beispielhaft für die jeweilige Zeit und ihre Architektur stehen und die gleichzeitig Raum für persönliche Erinnerungen lassen.
Die PreisträgeR*INNEN Sabine Bungert und Stefan Dolfen
Seit 2010 arbeiten Sabine Bungert und Stefan Dolfen gemeinsam an fotografischen Themen, in denen sie sich mit Entwicklungen von Stadträumen, Peripherien, dörflichen Strukturen und Landschaften aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen beschäftigen. Dabei konzentrieren sie sich auf die sichtbaren Zeichen soziokultureller Aspekte im öffentlichen Raum.
2017 fotografierten Sabine Bungert und Stefan Dolfen das Thema Diaolou – die Wachtürme von Kaiping, eine Dokumentation über Wohn- und Wachtürme in Südchina, die eine einzigartige Kombination aus der Architektur einer alten chinesischen Gesellschaft und verschiedenen bedeutenden Stilelementen anderer Kulturen darstellen. Diese Arbeit konnten sie aufgrund einer Förderung der Stiftung Kulturwerk der VG Bild- Kunst realisieren. Im Sommer 2018 reisten die beiden Fotografen durch sieben Bundesstaaten der USA. Mit dem Thema Kudzu wird der Einfluss einer hochinvasiven Pflanze auf die ursprünglich artenreichen Südstaaten Amerikas beschrieben. 2021 ist die Buchpublikation Kudzu im Verlag The Velvet Cell erschienen.
Sabine Bungert und Stefan Dolfen studierten Kommunikationsdesign an der Uni GHS Essen (Folkwang) und sind beide Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Photographie e.V. (DGPh).
Sabine Bungert arbeitet neben freien künstlerischen Projekten seit vielen Jahren für verschiedene Zeitschriften und Magazine vornehmlich in den Bereichen Architektur, Porträt, Reise und Reportage sowie für die Unternehmenskommunikation international tätiger Firmen. Stefan Dolfen hat seit dem Abschluss seines Studiums und der Auszeichnung durch die DGPH 1990 mit dem Otto Steinert Preis viele fotografische Projekte realisiert und ausgestellt. 1999 gründete er das eye-d Designbüro in Essen, das er bis heute mit dem Schwerpunkt Fotografie führt.

Die Broschüre zur Serie „Der Raum ist der dritte Lehrer“ der Fotografen Sabine Bungert und Stefan Dolfen, Preisträger des Jahres 2021, steht zum Verkauf in allen Museumsshops der Stiftung Historische Museen Hamburg.
Der Raum ist der dritte Lehrer
Sabine Bungert und Stefan Dolfen
Mit einem Text von Robert Uhde.
7,50 €, SHMH 2021
Verlag der Stiftung Historische Museen Hamburg
Hrsg. Prof. Dr. Hans-Jörg Czech
ISBN 978-3-947178-11-7
Zum Shop des Museums für Hamburgische Geschichte
Zum Shop des Museums der Arbeit
Zum Shop des Altonaer Museums