Der Georg Koppmann Preis für Hamburger Stadtfotografie des Jahres 2020 geht an den Fotografen Robin Hinsch. In der Jurysitzung zum gemeinsam von der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen (BSW) und der Stiftung Historische Museen Hamburg (SHMH) vergebenen Fotopreises wurde Robin Hinschs Projekt „Der Mechanismus“ aus den Bewerbungen ausgewählt.
„Der Mechanismus“ von Robin Hinsch
Von Oskar Piegsa, Journalist
I.
Bis zum Stadtrand braucht man vom Jungfernstieg mit der S-Bahn nur fünf Minuten. Mit dem Rad ist es vielleicht eine Viertelstunde. Dann erreicht man Hammerbrook und weiter in südöstlicher Richtung Rothenburgsort und Hamm. Sah man eben noch Schwäne, Fontänen, Barkassen und winkende Touristen in den teuersten Lagen Hamburgs, fährt man jetzt durch Bürowüsten und Transitland. Die Fußgänger sind verschwunden, stattdessen rauscht der Verkehr. Links und rechts davon gibt es Dienstleistungen für die Automobilgesellschaft: Zulassungsstelle, TÜV, Straßenstrich, Schrottplatz. Landschaftlich ist das der Stadtrand. Erst der Blick auf die Karte zeigt: Wir befinden uns im Herzen Hamburgs.
Das führt zu Missverständnissen. Unter der Hochstraße vor dem Hyperion-Hotel etwa irren immer wieder Rucksackreisende aus den umliegenden Hostels umher und starren dabei ratlos auf ihre Handys. So erzählen es Nachbarn, die diese Szenen aus ihrer Wohnung im Münzviertel beobachten. Google Maps zeigt den Ortsfremden an, dass es von hier aus gar nicht weit sei bis zur HafenCity, zur Kunstmeile und zum Kontorhausviertel. Doch wenn sie ihren Blick vom Handydisplay heben, sehen sie nur Ausfallstraßen und Brachland.
Diese Gegend war einst dicht besiedelt. Berühmte Hamburger sind hier aufgewachsen, Wolf Biermann zum Beispiel. Doch im Zweiten Weltkrieg wurde Hammerbrook durch alliierte Bomben fast vollständig zerstört und danach zunächst gar nicht wiederaufgebaut, später dann als gewerbliche »City Süd«, in die man morgens hinein- und aus der man abends wieder herauspendelt. Es ist, als wäre all das, was Städte ausmacht – geteilte Erinnerungen, markante Architektur und der Raum für Begegnungen mit Menschen, die eine gewachsene Gemeinschaft darstellen oder zumindest eine interessante Vielfalt – gleich mehrfach hintereinander ausgelöscht worden. Soweit der touristische Blick.
II.
Der Fotograf Robin Hinsch, Jahrgang 1987, lebt seit fünf Jahren in Hammerbrook. Fast ebenso lang dokumentiert er den Stadtteil, zunächst aus einem allgemeinen Drang heraus, Bilder zu machen, so erzählt er es, dann auch gezielter, um die einsetzende Veränderung des Viertels festzuhalten. So entstand seine Fotoserie »Der Mechanismus«. Mit Robin Hinsch Hammerbrook zu sehen, bedeutet Hammerbrook neu zu sehen und vielleicht etwas klarer.
An einem Tag im Sommer 2020 sitzen wir im Ateliergebäude in der Wendenstraße 45, das Fenster ist weit geöffnet (wegen der Hitze und wegen des Virus) und das Kreischen von Baugeräten dringt in den Raum. Auf der anderen Straßenseite errichtet der Technikkonzern Olympus gerade seine neue Zentrale für Vertrieb und Marketing in Europa, den arabischen Ländern und Afrika. Es handele sich um eine der größten Bauinvestitionen eines Unternehmens in Hamburg seit Jahren, heißt es auf der Website des Konzerns.
Wenn Robin Hinsch von Hammerbrook und den angrenzenden Stadtteilen spricht, betont er ihren »Un-Ort-Charakter«, die »interessante Belanglosigkeit« und das scheinbar planlose Nebeneinander: Es gibt hier Industrie gegen- über von Büros, Neubauten neben Leerstand, dazu als Vorboten der Aufwertung die Luxushausboote in den Kanälen und die erste neue Wohnsiedlung mit »Park-City-Living-Konzept« und Kaltmieten von 17 Euro pro Quadratmeter. Aber eben auch immer noch Brachland, wilde Mülldeponien, Schrebergärten und Großbordelle.
Mit dieser Mischung könnte es bald vorbei sein. Der Betreiber des Großbordells – das Hinsch in einer Außenansicht fotografiert hat – versuchte bereits, sein Etablissement als »Wellness Beach Club« neu zu erfinden, ohne Sex und Schmuddelkram, dafür mit After-Work-Cocktails. Das war eine Reaktion auf das Prostitutionsverbot zum Zwecke der Corona-Prävention, doch es ist verlockend, darin auch ein Zeichen zu sehen, welchen Weg der ganze Stadtteil nimmt. »Das sind jetzt vielleicht die letzten zwei Jahre, in denen diese Gegend interessant ist«, sagt Hinsch. »Denn was interessant für mich ist, hat immer einen Bruch.«
III.
Eine weit verbreitete Annahme besagt, dass Journalismus und Dokumentarfotografie etwas mit Objektivität zu tun hätten. Das ist falsch. Kein Mensch kann objektiv sein und kein Gerät ist geeignet zur Aufzeichnung von Wahrheit, auch nicht die Fotokamera. Schon eher ist Dokumentarfotografie eine Kultivierung der Subjektivität. So wie aus einem Steinblock eine Skulptur wird, indem ein Bildhauer die überflüssigen Teile weg- meißelt, lassen sich aus der überbordenden Masse des empirisch Gegebenen nur dann überzeugende Bilderfolgen freilegen, wenn man genauso gekonnt weg- wie hinsieht.
Das Hammerbrook, das Robin Hinsch zeigt, ist deshalb ein anderes als das der Neubauprospekte und der Beach Clubs in Instagram-Ästhetik. Es ist auch ein anderes als das jener Menschen, die seit vielen Jahren zum Arbeiten herkommen. Man sieht keine Fotos von Großraumbüros (Hinsch hat solche Motive ausprobiert und wieder verworfen), keine Mittagsimbisse und keine Baustellen. Stattdessen sei seine Frage, so Robin Hinsch: »Was passiert, wenn die Nutzung in die Nichtnutzung übergeben wird?« Was also ist dort und dann zu sehen, wo und wenn kaum jemand hinsieht?
Er war vor allem abends und nachts unterwegs, wenn die Berufspendler die Gegend verlassen hatten und die Betriebe geschlossen waren. Und er fotografierte »Überbleibsel«:
Im engeren Sinne sind das Schaukelpferde im Park, der Rasenmäher in einer Tiefgarage oder der E-Roller, der über dem Bürgersteig liegt, als wäre er dort erschöpft zusammengebrochen. Im weiteren Sinne sind es die behelfsmäßigen Unterkünfte jener, die in Kleingartenkolonien wohnen, so wie einst ihre ausgebombten Eltern oder Großeltern. Oder die vereinzelten Häuser, die den Feuersturm überstanden haben, und jetzt wirken, als wären sie falsch hier.
Wenn bei Robin Hinsch der Vertrieb von Waren in den arabischen und afrikanischen Raum in den Blick rückt, dann nicht beim Konzern gegenüber, sondern bei den Händlern in der Billstraße. Die Matratzen und Haushaltsgeräte, die sich in zwei Fotos türmen, sind nicht etwa Müll, sondern Exportgüter eines grenzüberschreitenden Gebrauchtwarenhandels. Wie lange wird sich dieses Gewerbe an diesem Ort noch rentieren? Wohl nur so lange, wie die Nutzung die Nichtnutzung dieser Gegend nicht verdrängt hat und Platz ist für informelle Wohnformen und Arbeitsweisen.
IV.
»Anfangs war es hier nach 18 Uhr komplett ausgestorben«, sagt Robin Hinsch, »jetzt merkt man, wie es lebendiger wird.« Es ist eine alte Geschichte: Stadtteile, die auf den ersten Blick trostlos und verlassen wirken, erweisen sich auf den zweiten Blick (oder vielleicht auch erst im Rückblick) als kulturelle Treibhäuser. Downtown Manhattan war 1977 ein zentral gelegener Stadtrand. Berlin-Mitte war es 1990. In der Geschichtsschreibung der Subkulturen sind beides mythische Orte: Disco! Punk! Kunst! Techno! Ja, diese Referenzen sind ein paar Nummern zu groß für Hammerbrook, Rothenburgsort und Hamm. Aber für Hamburg gilt wie für jedes System: Während das Zentrum vor allem mit Selbsterhalt beschäftigt ist, entsteht das Neue an der Peripherie. Dort, wo der Zugriff der planerischen und ökonomischen Kräfte, die Städte andernorts formen, noch lax ist. An dem Stadtrand, der direkt hinter dem Hauptbahnhof beginnt, gibt es etwas, das in Altona, auf St. Pauli oder im Schanzenviertel rar geworden ist: Es gibt Platz. Es gibt die Galerie Oel Früh, das Kraftwerk Bille, das Parks-Areal, den Club Südpol, auch das Haus, in dem Robin Hinsch arbeitet und ausstellt. Einige dieser Orte sind schon lange hier, viele werden erst jetzt entdeckt. Man muss sich die Menschen, deren Porträts Hinsch zwischen den Stadtansichten einstreut, als eine geographisch-kulturelle Avantgarde vorstellen. Dokumentarfotografie, sagt Robin Hinsch und verweist dabei auf die Künstlerin und Theoretikerin Hito Steyerl, sei eine Wette auf die Zukunft. Seine Fotos zeigen nicht nur das, was ist, sondern vor allem das, was gewesen sein wird. Eine wachsende Stadt dehnt sich aus. Sie ergreift Besitz von ihren vergessenen Lagen. In den Fotos von Robin Hinsch sieht man, was dabei verloren geht – ohne, dass damit zwangsläufig eine Anklage verbunden wäre. Nutzung verdrängt die Nicht-Nutzung, die Ränder wandern, so ist das, das ist der Mechanismus.
Die Bildserie
Der Preisträger Robin Hinsch
Über den Preisträger
Robin Hinsch (geboren 1987) beschäftigt sich in seiner Arbeit mit politischen, sozialen und ökologischen Fragestellungen. Sein besonderes Interesse gilt dem Ausloten der Verhältnisse zwischen dem dokumentarischen Bild und der Funktion des Bildes als ein Verhandlungspartner im ästhetischen Diskurs. Kann eine Fotografie Teil einer Erzählung und gleichzeitig autonomes Kunstwerk sein?
Robin Hinsch studierte Fotografie an der HfG Karlsruhe in der Klasse von Elger Esser, an der Hochschule Hannover bei Prof. Ralf Mayer und Prof. Rolf Nobel, an der HfBK Hamburg bei Silke Großmann und an der HAW Hamburg bei Prof. Ute Mahler und Prof. Vincent Kohlbecher.
Viele Arbeiten von Robin Hinsch wurden bisher international ausgestellt und ausgezeichnet. So stellte er u.a. im Nobel Peace Center in Oslo, der Fondation Gulbenkian Calouste in Paris, dem Haus der Photographie in Hamburg und dem Sommerset House in London aus. Seine Bilder, die in den verschiedensten Ländern wie Syrien, Nigeria, China oder der Ukraine entstanden, wurden mit vielen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, wie z.B. dem International Photography Award, dem European Exhibition Award und den Sony World Photography Awards, und wurden für den Henri Nannen Preis und den Prix Pictet nominiert.
Darüber hinaus veröffentlicht Robin Hinsch seine Arbeiten auch in internationalen Magazinen und Zeitungen wie The Guardian, Der Spiegel, Sunday Times Magazine, SZ und Zeit Magazin.
Seit 2016 ist Robin Hinsch berufenes Mitglied der Deutschen Fotografischen Akademie. Neben seiner eigenen fotografischen Praxis gründete er 2017 den Ausstellungsraum Studio 45 in Hamburg und kuratiert und veranstaltet dort seitdem eine Ausstellungsreihe, die sich der Förderung junger internationaler Fotografie verschrieben hat. Robin Hinsch lebt und arbeitet in Hamburg.
Die Broschüre zur Serie “Der Mechanismus” des Fotografen Robin Hinsch, Preisträger des Jahres 2020, steht zum Verkauf in allen Museumsshops der Stiftung Historische Museen Hamburg.
Der Mechanismus
Robin Hinsch
Mit einem Text von Oskar Piegsa.
7,50€, SHMH 2020
Verlag der Stiftung Historische Museen Hamburg
Hrsg. Prof. Dr. Hans-Jörg Czech
ISBN 978-3-947178-09-4