Stellen wir uns die Situation so vor: gerade nach Hause gehetzt, draußen ist es ungemütlich, aus den Schuhen geschlüpft, ein Bier im Kühlschrank gegriffen, du lässt dich in den Sessel fallen, schaltest den Fernseher ein, als dich die Türklingel aus der Feierabendruhe schreckt. Der Vorsatz, jegliche Störung zu ignorieren, wird nach dem zweiten, jetzt energischeren Klingeln aufgegeben. Du schlurfst zur Tür. Dort steht jemand, der ein merkwürdiges Anliegen vorträgt.
Enver Hirsch radelt durch Hamburgs Straßen, er bewegt sich durch vertrautes Terrain, manchmal verirrt er sich auch in die Peripherien der Stadt. Gewohnheiten können den Blick sehr verunschärfen. Im Gehirn sorgen Mechanismen dafür, dass vieles von dem, was die Sinne aufnehmen, ausgeblendet wird, was der Entlastung dient. Ohne diese Ausblendfunktion wären wir überfordert vom ständigen Ordnen des Stetswiederkehrenden. Doch Enver Hirsch ist nicht blind für das, was ihn umgibt, er öffnet seine innere Schleuse, um die urbane Komplexität einströmen zu lassen. Wer ihn bei seinem Treiben beobachten würde, könnte sich wundern, warum er urplötzlich abbremst.
Dann steht er da, den Blick einer Fassade zugewandt. Er geht ein paar Schritte vor, wieder zurück, umkreist das Gebäude, um schließlich ein schnelles Foto mit dem Telefon als Erinnerungshilfe zu machen. Ihm ist bewusst, dass es oft der Alltag ist, spezielle Bedingungen und begrenzte Ressourcen, die das städtische Erscheinungsbild entscheidend mitbestimmen. Das Urbane stellt sich als Flickenteppich dar. Und so sind die Exaltiertheiten der vorgefundenen Gebäude ein gefundenes Fressen für ihn; er staunt über Baukörper, die auf abenteuerliche Weise an Bestehendes angestückt werden und amüsiert sich über aberwitzige Detaillösungen, die jeden Bezug zu der sie umgebenden Ästhetik aufgeben. Einige Tage später wird er tatsächlich wiederkommen. Dann wird er als Fotograf unterwegs sein, nicht als radfahrender Passant.
Beim späteren Betrachten seiner Fotos werden wir gewahr, warum er gerade hier innehielt. Sein Blick erfasst die Komplexität der vorgefundenen Situation und legt ein Beziehungsgeflecht zwischen Raum, Architektur, einzelnen Bauelementen und – in den Fotos unsichtbar – Menschen offen. Zugleich fördert er immer wieder verwegen wirkende Details dieser Konstellationen zutage. Der gebürtige Hamburger beschäftigt sich seit jeher mit Architekturen und der Gestaltung städtischer Räume durch ihre Bewohner, ein Interesse, das er bereits als Schüler entwickelte. Als Fotograf gilt sein Blick nicht dem Wirkungsästhetischen, der Schönheit der Architektur, sondern fasziniert ihn der improvisierte Realismus, dem er überall im Stadtgeflecht begegnet. Auf seinen Reisen etwa durch die Megacitys Südostasiens hat er beobachtet, wie Bewohner in rasant wachsenden Städten provisorische Strukturen schufen, um ihre eigenen Bedürfnisse zu stillen. Solche temporären Lösungen und zweckentfremdeten Orte ziehen ihn magnetisch an.
Auch in Hamburg entdeckte er ein besonderes Phänomen: nach 1945 errichtete Notunterkünfte in Schrebergärten wurden im Laufe der Zeit zu dauerhaften Wohnräumen. Zusammen mit Philipp Meuser entstand daraufhin die Arbeit „Behelfsheime“. Dort, wo im urbanen Raum Brüche sichtbar werden und im Umgang mit dem Bestand eine gewisse Nonchalance vorherrscht, wo die Vision des Einzelnen erkennbar hervortritt und bauliche Elemente schräge Verbindungen bilden, dort, wo die Metamorphose der Stadt voller Widersprüche ist – dort fühlt sich der Fotograf am stärksten inspiriert. Genau da setzt seine Serie „Expansion“ an.
Die Idee dazu schlummerte schon lange in ihm. Anfang der 90er Jahre passierte er täglich eine Gründerzeitvilla, ohne ihr Beachtung zu schenken – bis eines Tages aus dieser eine überdimensionierte Glasschachtel erwuchs, bestehend aus Alu-Elementen und blaugetönten Scheiben. Die Eigentümer hatten ihre edle Behausung um einen Wintergarten erweitert, was der Fotograf mit Ambivalenz betrachtete. Auch wenn er über Konstruktionen dieser Art den Kopf schüttelt, erkennt er an, dass es die jeweilige Perspektive ist, die ihre Berechtigung findet.
Die Logik desjenigen, der sich zusätzliche Ressource oder Funktionsgewinn verschafft, steht dem ästhetischen Empfinden des vorbeischreitenden Passanten entgegen. Während ein Bewohner seine Bedürfnisse von innen her denkt und etwa unerwünschte Funktionen wie den Mülltonnenplatz in den Außenraum verlagert, wird die urbane Umgebung von außen als divergent empfunden. Die blaue Schachtel ist die Initialzündung seiner Serie, die er 2023 begann. Seitdem fotografiert er An- und Aufbauten, er spürt nachträgliche Eingriffe ins Bestehende auf, er richtet die Kamera auf unbeholfen wirkende Flickwerkbauten, oft Zeugnisse des Eigensinns ihrer Nutzer.
Jetzt hat der Fotograf das Rad gegen ein Auto getauscht, in dem er sein Kamera-Equipment verstaut. Es ist ein Herbstabend, die Bäume verlieren ihr Blattwerk und geben den Blick auf die Fassaden frei. Der Fotograf überlegt genau. Er stellt eine Leiter auf, um von einem erhöhten Standort das Gebäude einzufangen und optische Verzerrungen zu minimieren. Er bereitet seine Kamera vor, richtet die Blitzanlage aus. Vielleicht wartet er, bis im Haus ein Licht angeht – zusätzliche Lichtquellen machen das Foto lebendiger. Oder er fragt dort besser mal kurz. Als er zurückkommt, macht er einen Test, das Blitzlicht reißt die Dämmerung auf. Dann drückt er auf den Auslöser. Das Foto ist im Kasten. Er packt die Sachen zusammen. Gegenüber wird das Fenster aufgerissen, aber da ist er schon weiter.
Wann sich ein Gebäude für seine Serie qualifiziert, erkennt der Fotograf sofort. Während er in seiner ästhetischen Vorgehensweise strenger ist, bleibt er bei der Objektauswahl bewusst offen. Er verzichtet auf eine systematische Erfassung und auf den objektiven, puristischen Blick der typologischen Fotografie, wie man ihn etwa von der Becher-Schule kennt. Stattdessen möchte er Reibung erzeugen, indem er viel oder wenig beachtete Prestigeprojekte in eine Reihe stellt mit den fantasielosen Maßnahmen städtischer Wohnungsbaugesellschaften, die ihren Mietern im Nachhinein vermeintliche Zusatzannehmlichkeiten verschaffen oder dem Klein-Klein von Privatbesitzern, getrieben vom Hunger nach zusätzlichem Raum.
Im Zuge der Verdichtung des Stadtraums entstehen Großprojekte, bei denen Architekturbüros bestrebt sind, ihre Erweiterungsbauten in einen klugen Dialog mit den bestehenden historischen Gebäuden zu setzen. Beim Betrachten eines Fotos der Hamburger Messehalle kommen leise Zweifel auf, wie gut das gelingt, wenn die mächtige Dachkonstruktion das historische Verwaltungsgebäude von 1896 zu erdrücken scheint. Andernorts thront der „weiße Kohleturm“ als Industriedenkmal über mehreren Gewerbebauten. Nicht lange her, dass aus dem historischen Gebäude seitlich geschwulstartig grünblaue Glaserker hervorwuchsen, die nun als Büroflächen dienen – ein weiteres Beispiel für den Verdichtungsfuror im Stadtraum. Der Fotograf überlässt es dem Betrachter zu entscheiden, ob solche Eingriffe den Charakter des Gebäudes bewahren. Mit zwiespältigem Gefühl folgt man schließlich seinem sezierenden Blick, wenn er die Schnittstelle zwischen Eingang der Landungsbrücke 4 und einem angeflanschten Ladengeschäft mit billiger Platten-Glas-Fassade in den Fokus nimmt.
Obwohl Enver Hirsch manche Gestaltungslösungen und modische Effekte erkennbar kritisch betrachtet, bleibt seine fotografische Absicht frei von erhobenem Zeigefinger, ist stattdessen begleitet von einem Augenzwinkern. Tatsächlich empfindet er bei den privaten Initiativen ein tiefes Verständnis für die krummen, unvollkommenen Lösungen, obwohl sie ihn gleichzeitig aufregen. So präsentieren seine Fotos tollkühnen Dachaufbauten, irrwitzige Balkonkonstruktionen, sinnbefreite Fensterversetzungen und abenteuerlich geführte Lüftungskanäle. Es gibt Erweiterungen, bei denen man den Atem anhält: der neu kreierte Eingang eines Mehrfamilienhauses im Retro-Industrial-Style oder eine Art hölzerne Schuhschachtel, die direkt vor den Eingang eines anderen Hauses gesetzt ist, um in kühner Weise Zusatzraum zu schaffen. Das alles führt der Fotograf mit feiner Ironie vor, frei von jeder Häme. Manche seiner Szenen erfordern einen zweiten konzentrierten Blick, um die ganze Ungeheuerlichkeit zu begreifen: etwa ein strahlend weißes Fassadensegment im Gründerzeitstil, das über einem Eingang mit gelben Verblendsteinen klebt, während der Rest des Hauses in dunkelrot getünchtem Beton gehalten ist.
Ein abwechslungsreicher Bilderbogen entsteht, der amüsiert und zugleich zum Nachdenken über unterschiedliche Interessenlagen anregt. Ästhetisches Erleben und praktischer Nutzen stehen sich oft unvereinbar gegenüber. Die gebaute Umwelt ist ein widersprüchliches Konstrukt – voller Brüche, Überlagerungen und merkwürdiger Bezüge. Enver Hirschs Fotos spotten jedem Rendering-Entwurf, jeder instagrammablen Ästhetik oder cleanen KI-Zukunftsvision. Das urbane Erscheinungsbild der Stadt entscheidet sich nicht am Reißbrett, sondern im Alltag, unter unübersichtlichen Bedingungen und mit begrenzten Mitteln. Seine Serie schärft unseren Blick für die Absurditäten des vorgefundenen Raums. Wir möchten lachen, um nicht zu weinen. Wie es wohl sein muss, eines Morgens die Gardine zu öffnen und festzustellen, dass die Sicht versperrt ist, weil dicht vor dem Fenster ein massiver Pfeiler installiert ist, der den neuen Balkon des Nachbarn stützt?
Vor der Tür steht ein Mann, der sich als Fotograf vorstellt und erzählt, dass er letztens schon mal vorbeigekommen sei und ob er dein Haus fotografieren dürfe. Könntest du so freundlich sein und das Licht in den Zimmern anmachen? Weil du keine Lust auf lange Erklärungen hast und dir auf die Schnelle kein Grund zum Absagen einfällt, willigst du ein. Gerade hast du die Tür geschlossen und dich wieder dem TV zugewandt, als dich plötzlich ein tagheller Blitz vor dem Fenster aus dem Sessel hochreißen lässt. Du gehst zum Fenster, aber niemand ist zu sehen. Der Fotograf scheint schon weitergezogen. Und plötzlich entbrennt die eine Frage in dir: Was – bitte schön – ist denn so spannend an meinem Haus?