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Heimkommen Harriet, 72 Jahre, Niendorf

Eine Frau blickt in die Kamera und sitzt auf einem rosa Sofa

Ich wurde geboren in einem Bett, das Geschichten erzählte: das Ehebett meines Urgroßvaters, eines Kommandeurs der Hafenpolizei und Weltumseglers, in der Kottwitzstraße, mitten in Hamburg. Doch es sollte viele Jahre dauern, bis ich mich als stolze Hamburgerin empfand. Meine Kindheit war durchzogen von einem Hauch der Hafenstadt. Mein Großvater sprach Plattdeutsch, und Wörter wie FiesematentenFeudel und figgeliensch waren Teil meines alltäglichen Vokabulars.

Doch die tiefe Verbindung meiner Familie zum Hafen und zur Seefahrt blieb lange ein Rätsel für mich. Mein Leben lang hatte ich tägliche Berührung mit typischem Lokalkolorit. Die Straßenbahn-Linie 2 trug mich morgens rein und abends raus aus Mönckebergstraße, Rathausmarkt, Jungfernstieg, über Gänsemarkt und Dammtor bis an den Stadtrand. Aber es war eine oberflächliche Beziehung. Die Stadt war mein Zuhause, doch sie hatte keinen Platz in meinem Herzen.


Als ich dann den “Finkenwerder Jung”, einen Sohn eines der letzten Elbfischer heiratete, saß ich zu Geburtstagen am Tisch mit echten Finkenwerder Bauern, mit fetten, selbst gefangenen Aalen auf dem Tisch und wir leckten uns gemeinsam die fettigen Finger. “Esso und BP”, krähte die Schwester Ingrid zur “Appetitanregung” dazwischen, aber es störte sich niemand wirklich daran. Ich hatte nun Verwandtschaft im Alten Land. Ich lebte in meiner kurzen Ehe direkt am Finkenwerder Fähranleger. Unsere Hochzeit hatten wir in der „Finkenwerder Landungsbrücke“ gefeiert -der Heimat der Scholle- und die Dampferbrücke wurde mein Startblock in den Tag.

Mein Alltag begann und endete mit den Wellen der Elbe. Täglich brachte mich die Fähre 62 um das Lotsenhaus Seemannshöft herum, dann vorbei an Teufelsbrück und Övelgönne, vorbei an den Docks von Blohm & Voss zu den quietschenden, wiegenden Pontons der Landungsbrücken. Der Michel grüßte mich jeden Tag und ich spürte, wie die Elbe zu meiner Hauptschlagader wurde. Doch die Vergangenheit der Stadt, ihre tiefen Wurzeln, lagen für mich noch immer verborgen.

Die U-Bahn führte mich auf einer der schönsten Strecken Deutschlands durch die Stadt: vorbei an der Kajüte Claus Störtebeker und dem Schiffsausrüster Schmeling, deren Geschichte ich damals noch nicht kannte. Ich grüßte müde die weißen Koggen des hellblauen Stella-Hauses, den roten Sandstein des Flüggerhauses, dessen große Rundbogenfenster tief blicken ließen und passierte den Rödingsmarkt, bevor mich die quietschenden Räder über die steilste Stelle, die eine U-Bahn in Deutschland zu bewältigen hat, in die Kurve des Mönkedamm-Viadukts trug, bis ich unter der alten Handelsbörse verschwand. Jahre später, gezwungen durch meinen Beruf, verließ ich Hamburg.

Erst in der Fremde begann ich, die Stadt zu vermissen. Die Möwenrufe wurden zu einer Melodie, die nur ich hörte. Der Geruch von Meer, Teer und Öl war plötzlich kein Gestank mehr, sondern eine Botschaft der Heimat. Am schönsten aber war das Hämmern der Werften, das der Wind herübertrug. Als ich nach Jahren zurückkehrte, war ich bereit, die Stadt mit anderen Augen zu sehen. Meine Recherchen im Staatsarchiv öffneten mir die Tore zu einer längst vergessenen Welt.

Ich entdeckte, dass meine Vorfahren an den Vorsetzen gelebt hatten, in einem Viertel voller Seemannskneipen und Handwerkergassen. Dort, wo jetzt das Verlagshaus Gruner+Jahr steht, lebten sie in engen Buden, kämpften gegen Entbehrungen und Epidemien, verloren Kinder und Ehepartner. Mein Ur-ur-ur-ur-Großvater, ein Walfänger, hatte in Hamburg 1754 seine Familie gegründet. Später wurde sein Sohn Hausküper bei der Familie Amsinck und heiratete im Haus des Senators.

Die Geschichten meiner Vorfahren klebten an den Straßen, die ich früher achtlos passierte, und an den Gebäuden, die längst verschwunden waren. Die Distanz, die Rückkehr und das Wissen um die Schicksale meiner Familie verwandelten Hamburg in meine Heimat. Es war nicht mehr nur eine Stadt, in der ich lebte – es war eine Stadt, in der ich Wurzeln schlug. Und so, während ich an der Elbe stehe und dem Wind lausche, fühle ich die unzertrennliche Verbindung.


Anmerkung MeinHamburg-Redaktionsteam:

Im Text gibt es einige Worte und Begriffe, die vielleicht nicht alle kennen. Deshalb haben wir sie hier erklärt.

Fiesematenten – altes Wort für Scherze oder Streiche, die vielleicht etwas gemein oder lustig sind.

Feudel – plattdeutsches Wort für Wischmopp, mit dem man den Boden putzt.

Figgeliensch – plattdeutsches Wort, das so viel wie „kompliziert oder kniffelig“ bedeutet.

Lokalkolorit – der besondere Charakter eines Ortes, zum Beispiel die Menschen, Sprache oder Traditionen.

Lotsenhaus – Lotsen sind Personen, die Schiffe sicher in den Hafen führen, besonders bei schlechtem Wetter oder schwierigen Bedingungen. Ein Lotsenhaus ist ein Gebäude, in dem Lotsen arbeiten.

Pontons – sind schwimmende Plattformen, die als Anlegestellen oder für andere Zwecke auf Wasserflächen genutzt werden.

Koggen – alte, segelnde Schiffe aus dem Mittelalter, die vor allem im Handel verwendet wurden.

Vorsetzen – altes Viertel in Hamburg, das früher von Seeleuten und Arbeiter*innen bewohnt wurde und am Hafen lag.

Mönkedamm-Viadukt – steile Rampe, die die Hamburger U-Bahn über eine Straße führt, bevor sie in einen Tunnel geht.

Hausküper – war in Hamburg jemand, der sich im 17. bis 19. Jahrhundert in großen Handelsfirmen um Lager und Waren gekümmert hat.


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Viele Perspektiven von Menschen der Hamburger Stadtgesellschaft finden sich im Museum für Hamburgische Geschichte (MHG) bislang nicht wieder. Wir wollen dies mit dem Stadtteilprojekt ändern.

Mithilfe von Beteiligungsformaten – das können digitale Formate, aber auch mobile Anker oder Treffpunkte an öffentlichen Orten in den verschiedenen Stadtteilen sein – möchten wir Hamburger*innen ermutigen, ihre Lebenswirklichkeiten zu teilen.

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