
Heute sind die Häuser und Wohnungen in den Gartenstädten Hamburgs begehrte Adressen auf dem Immobilienmarkt. Zur Zeit ihrer Erbauung symbolisierten sie aber noch viel mehr. Ein Bezug bedeutete für viele Zuflucht, Unabhängigkeit und sozialer Aufstieg.
Von Claudia Preiksch
Deutschland entwickelte sich zum Ende des 19. Jahrhundert von einer Agrar- zu einer verstädterten Industriegesellschaft. Mit dem Einsetzen der Industrialisierung verlagerten immer mehr Menschen ihren Lebensmittelpunkt in die nahe gelegenen Städte, um einen Arbeitsplatz in einer der Fabriken aufzunehmen. Zwar genossen die Städte, wie auch Hamburg etwa durch die Ansiedelung von Werften, großen wirtschaftlichen Aufschwung, jedoch litt gleichermaßen die städtische Lebensqualität unter der enormen Umweltbelastung, die von den Fabriken ausging. Erschwerend kam hinzu, dass durch die vielen Hinzugezogenen eine extreme Nachfrage an Wohnraum entstand. Diesen Spagat aus überdurchschnittlicher Wohnungsnachfrage und nicht vorhandenem Angebot zu bewältigen, war schier unmöglich.
Aus dieser raschen Entwicklung resultierten: überbelegte Wohnungen, Krankheiten und unzumutbare Zustände. Ein Problem übrigens, das nicht nur Deutschland zu beklagen hatte. England, das Land, das bekanntermaßen den Startschuss für die sogenannte „industrielle Revolution“ setzte, kämpfte bereits 50 bis 100 Jahre zuvor mit ähnlichen Problemen. Der deutsche Philosoph Friedrich Engels beschrieb in seinem Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1848) anhand empirischer Sozialstudien die Situation, die er in den Großstädten auf der Insel vorfand. In seinem Text, der als eines der ersten Werke der Stadtforschung angesehen werden kann, skizzierte er die Verhältnisse, in der sich die Städte und Menschen befanden, sehr anschaulich. Neben der offensichtlichen Kritik an dem herrschenden, wohlhabenden Bürgertum, dokumentierte der damals gerade einmal 24-jährige Engels die Lebensumstände, in denen die ärmere Bevölkerung lebte mit Beschreibungen wie:
„[…] die Einwohner sind auf kleinsten Raum beschränkt, und in den meisten Fällen schläft wenigstens eine Familie in einem Zimmer“ oder „Die Häuser sind bewohnt vom Keller bis hart unters Dach, schmutzig von außen und innen, und sehen aus, daß kein Mensch drin wohnen möchte. Das ist aber alles noch nichts gegen die Wohnungen in den engen Höfen und Gäßchen zwischen den Straßen, in die man durch bedeckte Gänge zwischen den Häusern hineingeht und in denen der Schmutz und die Baufälligkeit alle Vorstellungen übertrifft […]“.
Wenn man nicht wüsste, dass der Autor die Umstände in englischen Großstädten beschreibt, könnte man meinen, er spricht von Hamburg, genauer gesagt von den katastrophalen Gegebenheiten in den Gängevierteln zum Ende des 19. Jahrhunderts. Diese Ausführungen zeigen exemplarisch wie wenig attraktiv, bezogen auf die Wohnsituation, es war, in einer Großstadt zu leben. Nicht nur, dass es eng war, vielmehr bestand eine reelle Gefährdung für das körperliche Wohlbefinden.
Der Wunsch nach sauberer Luft, Natur und einer gesunden Lebensumgebung wurde laut. Leisten konnten sich das jedoch zu diesem Zeitpunkt nur die wohl situierte Bevölkerungsschicht.
„Es gibt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorbehalten
wäre, wie die Blasiertheit. Sie ist zunächst die Folge jener rasch wechselnden und in ihren Gegensätzen eng zusammengedrängten Nervenreize, aus denen uns auch die Steigerung der großstädtischen Intellektualität hervorzugehen schien […].“
Die Großstädte und das Geistesleben (1903), Georg Simmel
Ein weiteres aufschlussreiches Dokument, das die Konsequenzen der werdenden Großstädte beschreibt, findet man in den Werken Georg Simmels. In seinem Vortrag zur deutschen Städte-Ausstellung der Gehe-Stiftung berichtete der Soziologe als Zeitzeuge von seinen Beobachtungen Berlins zur Jahrhundertwende. In dem Vortrag, der später als Text unter dem Titel Die Großstädte und das Geistesleben (1903) veröffentlicht wurde, gewährt er den Leser*innen Einblicke in das Innenleben der Menschen. Er beschreibt darin, wie sich nicht nur die äußere Umwelt, sondern damit einhergehend auch das menschliche Wesen aufgrund der vielfachen Eindrücke veränderte. Simmel argumentierte, dass die Menschen durch das „großstädtische Gewühl“ und die „Anhäufung“ immer mehr abstumpften, emotional überfordert waren und dadurch nicht mehr angemessen auf Reize reagieren konnten und schließlich gleichgültig wurden.
England lieferte die Idee zu einer „Gartenstadt“, die die Vorteile von Stadt und Land verbinden sollte
Diese Zeit, in der so Vieles also – innerlich wie äußerlich – im Umbruch lag, war auch eine Phase der „Reformbestrebungen, die in allen Lebensbereichen zu vernehmen waren, um die Versöhnung des Menschen mit seiner natürlichen Umwelt wiederherzustellen“ (WBG Architekturgeschichte, 2015). Das Bewusstsein dafür, dass die durchlebte Gegenwart nicht auch zur Zukunft werden sollte, wird daraus deutlich. Aufgrund der Negativ-Spirale, die für die englische Bevölkerung in den rasch wachsenden Großstädten entstand, entwickelte der Engländer Ebenezer Howard in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts eine Idee, wie das Städtische mit dem Ländlichen verbunden werden und so vor allem das Elend der Arbeiterklasse gelindert werden konnte. Howards Gegenentwurf, der selbst übrigens kein Architekt oder Stadtplaner, sondern Stenograph war, sah vor, dass es Satellitenstädte im Grünen geben sollte, die um eine zentrale Stadt, die Kernstadt, organisiert waren. Durch diese Kombination erhoffte er sich, die jeweiligen Vorteile von Stadt und Land vereinen zu können. Die Verschmelzung dieser gegensätzlichen Pole nannte er „Gartenstadt“. Das Ziel war es, Großstädte in ferner Zukunft auflösen zu können und nur noch Städte mit ungefähr 30.000 Einwohner*innen zu schaffen, die sich selbst versorgen könnten. Eine 1:1 Umsetzung seines Konzeptes gab es tatsächlich weder in England noch in anderen Ländern. Die Entstehung einer „Gartenstadt-Bewegung“, in deren Zug die sozialreformerische Idee des Engländers in vielen Ländern adaptiert und in Teilen umgesetzt wurde, setzte jedoch schnell ein. Aber was machte die Gartenstadt so attraktiv? Die Verhältnisse, in denen sich die Mehrheit der in Großstädten lebenden Bevölkerung befand, wurden bereits herausgestellt. Die Sehnsucht nach etwas Besserem ist daher verständlich. Das Leben in einem der Häuser oder Wohnungen einer Gartenstadt versprach: Freiraum, gewisse Unabhängigkeit, gesunde Lebensweise, Gemeinschaft und bezahlbaren Wohnraum.
Die Steenkampsiedlung – eine der ersten Gartenstädte Hamburgs
In Deutschland entstand schließlich um 1908 die erste Gartenstadt in Hellerau bei Dresden. Hamburg ließ nicht lange auf sich warten. Die Hansestadt kann die Steenkampsiedlung als eine ihrer ersten Gartenstädte vorweisen. Zwischen 1914 und 1926 wurde die Siedlung im heutigen Hamburger Stadtteil Bahrenfeld in Altona – damals noch selbstständige preußische Großstadt Altona – erbaut. Sie entstand auf einem ca. 22.000m² großen Areal und zeichnete sich durch eine Bebauung mit neun verschiedenen Häusertypen aus. Der überwiegende Anteil waren 1,5 bis 2-geschossigen Einfamilienhäuser in Reihen- und Doppelhausform. Die 670 Einfamilienhäuser unterschieden sich zwar in Größe, Ausstattung und Grundriss, basierten aber auf dem gleichen Grundschema: Je nach Typ waren sie ganz oder teilweise unterkellert, hatten drei bis fünf Zimmer, Küche, WC, Trockenboden und Kellerwaschküche. Die größeren Häusertypen waren zusätzlich noch mit einem Badezimmer ausgestattet. Anschlüsse an Gas-, Strom-, Wasser- und Sielnetz sowie ein bepflanzter Garten mit Obstbäumen und -sträuchern und, bei einigen Wohnungen, ein Kleintierstall, gehörten zu den Häusern standardmäßig dazu; eine Ausstattung, dessen Niveau in der Zeit um den Ersten Weltkrieg keine Selbstverständlichkeit war. Gerade für diejenigen Bewohner*innen, die vorher in engen Mietskasernen wohnten, bedeutete das eine enorme Verbesserung und sozialer Aufstieg. Die Steenkampsiedlung kann damit als frühes Musterbeispiel für sozialen Wohnungsbau angesehen werden. Die verhältnismäßig mietgünstigen Wohnungen im Grünen, nah des Stadtzentrums hätten sich Menschen aus der Mittel- und Unterschicht normalerweise nicht leisten können, waren aber explizit für sie vorgesehen. Tatsächlich aber entfielen 65,5% der Wohnungen auf Angehörige des tertiären Sektors (Angestellte, Beamte, Kaufleute, freie Berufe) und nur 29% auf Arbeiter*innen (Quelle: 100 Jahre Steenkamp. Festschrift zur Einhundertjahr-Feier der Siedlung Steenkamp). Inzwischen befindet sich ein Großteil der Häuser, auf Wunsch der Bewohner*innen gegenüber der damaligen Verwalterin der SAGA, in Privatbesitz.
Ein unebener Weg bis zur Fertigstellung der Steenkampsiedlung, der in der Gründung der SAGA mündet
Die SAGA, die heute mit dem Hamburger Wohnungsmarkt und der Geschichte der Hansestadt fest verwurzelt ist, wurde am 29.12.1922 gegründet. Dieser Ursprung ist übrigens eng mit der Entstehung der Steenkampsiedlung verbunden. Die Initiierung des Baus der Siedlung beauftragte der Gemeinnützige Bauverein Altona-Ottensen G.m.b.H. mit der Absicht, schlechter gestellten Bevölkerungsschichten qualitativ hochwertigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Vorausschauend hatte die Stadt Altona etwa ein Drittel des gesamten Stadtgebietes erworben, was ermöglichte, Baugelände günstig zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus konnte die Stadt so die Bürgschaft für circa 75 Prozent der Baugelder übernehmen. Das gestattete ein derart großes Vorhaben wie den Bau der Steenkampsiedlung. Der Erste Weltkrieg durchkreuzte jedoch diese Pläne und riss ein Finanzierungsloch in das Vorhaben.

Unterstützung fand man daraufhin bei der GAGFAH (Gemeinnützige Aktien-Gesellschaft für Angestellten-Heimstätten) in Berlin. 1919 wurde in Altona schließlich daraus die Tochtergesellschaft Heimag (Heimstätten Aktien-Gesellschaft) gegründet. Die Heimag und die Stadt Altona schlossen einen Vertrag zur Errichtung von Eigenheimen. Aber auch dieses Vorhaben stand unter keinem guten Stern. Die Inflation der damaligen Jahre führte dazu, dass der Bau 1922 unterbrochen werden musste und die Heimag nur wenige Zeit später Insolvenz einreichte. Daraufhin wurde die Siedlung in den Besitz der Stadt Altona überführt, zu welchem Anlass die Siedlungs- und Aktiengesellschaft Altona (SAGA) gegründet wurde. Der Bau der Siedlung konnte dennoch erst im Jahr 1925 fortgesetzt werden, als durch die eingeführte Hauszinssteuer wieder Geld in der Kasse war. Der dritte und letzte Bauabschnitt konnte schlussendlich erfolgreich im Jahr 1929 beendet werden. Die SAGA übernahm die Aufgabe, die Wohnungen wohnungswirtschaftlich zu verwalten. Das erste Büro der SAGA wurde 1922 im Obergeschoss des Gasthofes „Lindenkrug“ an der Vogelweide in der Steenkampsiedlung eingerichtet. Dort arbeiteten zu diesem Zeitpunkt vier Beschäftigte in zwei Räumen. (Quelle: 100 Jahre Steenkamp. Festschrift zur Einhundertjahr-Feier der Siedlung Steenkamp).
Mit Engagement und Eigenleistung den Erhalt der Siedlung sichern
Das Konzept „Gartenstadt“ stand nicht nur für autarkes Wohnen im Grünen, sondern auch für Gemeinschaft, Feiern und eine gute Nachbarschaft. In der Festschrift „100 Jahre Steenkamp“, die anlässlich des 100. Geburtstags der Heimstätter-Vereinigung Steenkamp e.V. aufgesetzt wurde, lässt sich davon vieles nachlesen. Die Schrift gibt einen guten Überblick darüber, welch enge Bindung die Bewohner*innen zu ihrer Siedlung hatten und haben und welchen Stellenwert die Idee einer Gartenstadt inmitten einer Großstadt für die Gesellschaft noch immer hat. Aber nicht nur die Steenkamper machen ihrer Siedlung alle Ehre, auch die anderen Gartenstädte in Hamburg sind bekannt für ihren nachbarschaftlichen Zusammenhalt und die Pflege ihres Quartiers.
Die Fritz-Schumacher-Siedlung in Langenhorn ist beispielsweise ähnlich alt wie die in Altona. 1920 wurde sie von Hamburgs Oberbaudirektor Fritz Schumacher konzipiert. Seitdem wird sie gehegt und gepflegt, obwohl ihr nur eine Lebensdauer von 50 Jahren vorausgesagt wurde. Auch hier steckte zwar die Gartenstadtidee hinter der Errichtung der Siedlung, aber es waren vor allem die Auswirkungen, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte, die einen Bau einer derart großen Siedlung nötig machte. Mit schlechtem Material wurden in „Ersatzbauweise“ knapp 670 Doppelhaushälften und Reihenhäuser fertiggestellt. Die schlechte finanzielle Lage sorgte dafür, dass anstatt Zement Lehm verwendet und die Hohlräume in den Wänden mit Torf und Schlacken geschlossen wurden. Man muss kein großes Architekturwissen haben, um zu verstehen, dass diese minderwertigen Materialien keine gute Basis für Dauerhaftigkeit sein können. Die Wohnungen und Häuser wurden aber dringend für kinderreiche Familien und Kriegsheimkehrende benötigt, die Stadt musste dementsprechend handeln und baute mit dem, was sie hatte. Das große Areal in Langenhorn bot sich für ein derartiges Vorhaben an und war zu dem Zeitpunkt auch das Einzige, das in dieser Größenordnung überhaupt zur Verfügung stand. Nicht nur der Geld- und Rohstoffmangel stellte sich jedoch als Problem heraus, sondern auch die Fläche an sich. Das Gebiet bestand vornehmlich aus Moor und Heide, so dass der Untergrund mit seinem sehr hohen Grundwasserstand zusätzlich zur Herausforderung wurde.

Während die Steenkamper zur gleichen Zeit bereits den Luxus einer Wasserspülung und den Anschluss an das Abwassersystem genossen, blieb das in Langenhorn aus dem Grund der Kostenersparnis vorerst aus. Die Siedlung blieb zwar von den verheerenden Angriffen des Zweiten Weltkrieges auf Hamburg weitgehend verschont, es traten aber, wie vorhergesagt, ab den 1960er Jahren immer mehr Mängel an den Häusern zutage. Die verarbeiteten Bausubstanzen waren so schlecht, dass eine großflächige Sanierung immer unumgänglicher wurde. Sogar ein Abriss der Siedlung war schon im Gespräch, was aber von den Bewohner*innen abgewendet werden konnte. Die Siedler*innen übernahmen im großen Umfang die Sanierungsarbeiten in Eigenleistung und die inzwischen 100-jährige Gartenstadt konnte erhalten bleiben. Seit 1975 steht die Siedlung unter Milieuschutz. Um den doch sehr kreativen Schaffen der Bewohner*innen an ihren Häusern Einhalt zu gewähren und die Siedlung als Kulturdenkmal zu erhalten, wurde sie im Jahr 2013 schließlich auch unter Denkmalschutz gestellt.
Die Gartenstadt Berne im Hamburger Stadtteil Farmsen-Berne kann als weitere Siedlung genannt werden, die im selben Zeitraum, und zwar ab 1919, errichtet wurde. Auch hier lässt sich eine große Verbundenheit zum neu entstehenden zu Hause erahnen. Die zukünftigen Bewohner*innen errichteten nämlich zunächst die Häuser in Eigenregie.
Greifbare Zuversicht für eine traumatisierte Stadtgesellschaft
Drei weitere Gartenstädte in der Hansestadt entstanden zu späteren Zeitpunkten. Die Gartenstadt Alsterdorf wurde zwischen 1935 und 1938 erbaut, die Gartenstadt Farmsen zwischen 1953 und 1954 genauso wie die Gartenstadt Hohnerkamp im Stadtteil Bramfeld. Alle Siedlungen wurden damit rund um die Wirren des Ersten oder Zweiten Weltkrieges konzipiert und fertiggestellt. Der Stellenwert, den die Schaffung von Wohnraum zu diesen schwierigen Zeiten einnahm, wird dadurch deutlich. Mit den groß angelegten Quartieren verfolgte man zum einen, die Wohnungsnot zu verringern, zum anderen aber auch den Menschen eine gewisse existentielle Sicherheit zu geben. Die Mieten waren erschwinglich und explizit die Menschen, die sich normalerweise kein Heim im Grünen leisten konnten, waren die Adressaten für diese Wohnprojekte. Zuversicht und Stabilität gaben gewiss auch die selbstversorgenden Möglichkeiten durch den eigenen Garten mit Obst- und Gemüseanbau als auch die Kleintierhaltung. Hamburg hatte schließlich in der Vergangenheit mit Hungersnöten, Bombardierungen und Krankheiten schwere Zeiten durchlebt, in der oftmals die eigene Existenz das Einzige war, das man hatte. Viele Hamburger*innen waren traumatisiert. Ein Haus oder eine Wohnung mit Garten war etwas Greifbares und erlaubte ein Stück Vertrauen in die Zukunft zu fassen.

Etablierung einer neuen Wohnkultur für die Arbeiterschicht und Manifestation bürgerlicher Werte
Die Gartenstadtidee des Engländers Ebenezer Howard wurde in Hamburg adaptiert und war für die Bevölkerung mehr als reine Wohnraumbeschaffung. Der Bezug der Siedlungen bedeutete für viele Hamburger*innen sozialer Aufstieg und Unabhängigkeit. Die herausragende Stellung der Gartenstädte innerhalb der Hansestadt wird deutlich, wenn man besieht, dass heute vier der sechs Siedlungen ganz oder zu großen Teilen unter Denkmalschutz und die anderen beiden unter Milieuschutz stehen. Allgemeinhin bedeutete das Gartenstadt-Konzept einen Schritt in Richtung Zukunft und in eine neue Gesellschaftsstruktur. Allein durch die Raumaufteilung der Häuser lässt sich dieser Fortschritt erahnen, denn die war differenziert in einen privaten und einen öffentlichen Bereich. Während sich (in den Häusern) unten das von außen einsehbare und repräsentative Wohnzimmer befand, lagen in der ersten Etage die Schlafzimmer und das (wo vorhanden) Badezimmer. Auch die Ausdifferenzierung der Räume nach Funktionen untermalte den Aspekt der Fortschrittlichkeit: Intime Handlungen wie Sexualität oder die Körperhygiene waren fortan in abgegrenzten Räumlichkeiten möglich. Während sich beispielsweise das gesamte häusliche Leben in den engen Mietskaseren der Jahrhundertwende in meist nur einem Raum abspielte, existierten nun definierte und abgeschlossene Bereiche.
Diese Charakteristika, die den Aufbau der Häuser ausmachten, waren den höheren Gesellschaftsschichten zwar schon bekannt und wurden mitunter bereits gelebt. Für die untere Mittel-, also die Arbeiterschicht, war diese Art zu Wohnen jedoch bis dato unbekannt. Diese neuen bürgerliche Werte, die sich dadurch herauskristallisierten und nun auch die unteren Gesellschaftsschichten erreichten, führten dazu, dass sich allmählich eine neue Wohnkultur manifestierte. Diese Wohnkultur, die das Städtische mit dem Ländlichen verband, ermöglichte es, Teile der Arbeiterschicht in die bereits bestehende Gesellschaftsordnung zu integrieren.
Das Gartenstadtmodell kann zudem als Vorläufer oder Inspiration zu den Überlegungen der Charta von Athen verstanden werden. Das Treffen der Städteplaner und Architekten im Jahr 1933 hatte zum Ziel, die rasch voranschreitende Verstädterung Europas planerisch aufzufangen und die Städte für die Bewohner*innen angemessen zu entwerfen. In dem Manifest, das aus dieser Zusammenkunft hervorgegangen ist, wird die räumliche Trennung folgender Funktionen gefordert: Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr.
Howards Konzept der Gartenstadt kam diesen Vorstellungen der „funktionalen Stadt“ schon sehr nah. Was von der äußeren Erscheinung – Haus mit Garten und Kleintierhaltung – auf den ersten Blick ländlich und altmodisch wirken mochte, war schlussendlich, gerade für Geringverdienende, ein Schritt in Richtung sozialer Aufstieg, Fortschritt und Unabhängigkeit. Howards Buch in Erstauflage von 1898, in der er die Gartenstadtidee vorstellt, hat den vielsagenden Untertitel: „A Peaceful Path to Real Reform“, was so viel heißt wie: „Ein friedlicher Weg zu einer echten Reform“. Betrachtet man die in Hamburg entstandenen Siedlungen, ist das eine adäquate physische Übersetzung.
Quellen
Buchholz, Sebastian (Hg.): 100 Jahre Steenkamp. Festschrift zur Einhundertjahr-Feier der Siedlung Steenkamp, Hamburg: Heimstättervereinigung Steenkamp e.V.. (zitiert)
Ehemann, Arne (2006): Wohnarchitektur des mitteleuropäischen Traditionalismus um 1910 in ausgewählten Beispielen, Universität Hamburg (Dissertation).
Engels, Friedrich (1973 [1848]): Die Lage der arbeitenden Klasse in England, München: dtv. (zitiert)
Freigang, Christian (2015): WBG Architekturgeschichte. Die Moderne, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft). (zitiert)
Howard, Ebenezer (2015): Gartenstädte von morgen: Ein Buch und seine Geschichte, Berlin, München, Boston: Birkhäuser. https://doi.org/10.1515/9783035606577.
Simmel, Georg (1903): Die Großstädte und das Geistesleben, In: Th. Petermann (Hg.): Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung, Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, Band 9, S. 185-206. (zitiert)
Wilkinson, Philip (2013): 50 Schlüsselideen Architektur, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag GmbH.