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Aufstand der Zeichen

Mit rund 108.000 Besuchenden hörte die Ausstellung “Eine Stadt wird bunt. Hamburg Graffiti History 1980 – 1999” zu erfolgreichsten Ausstellungen des Museums für Hamburgische Geschichte. Eine Ursachenforschung

Text: Mathias Becker

Plötzlich waren sie da. Auf Mauern und Stromkästen, an den Wänden der U-Bahnstation Ochsenzoll. „ROCK“ stand da. Oder „STER“. Oder „RCK“, das Kürzel für „Run City Kids“. Es war 1988, ich war zehn Jahre alt, kurvte mit dem BMX-Rad durchs Viertel und trat ehrfürchtig auf die Bremse, wenn ich neue Tags erspähte. Die Buchstaben faszinierten mich. Sie waren kantig, aggressiv und perfekt geformt wie ein Markenlogo. Und sie wurden offensichtlich nachts verbreitet. Ich war wie elektrisiert.

Mein bester Freund erzählte mir wenig später die wildesten Geschichten über „die RCKs“, was man englisch ausspricht, also „Ar-Si-Kays“. Da ging es um Schlägereien, Drogen, Kleinkriminalität, kurz: um alles, was ich höchstens aus dem Fernsehen kannte. Und, während unsere Mutprobe darin bestand, im Kiosk an der U-Bahnstation Kiwittsmoor Lakritz-Lollis zu „zocken“, taggten die RCKs die ganze Station voll. Ihre Zeichen wurden für mich zu Symbolen für die abenteuerliche Welt der Graffiti-Sprüher.

Ein Graffiti-Sprayer sprüht 1987 ein Window-Down-Panel auf eine S-Bahn in Bergedorf.

1989, da war ich elf, setzte mir ein Freund seine Walkman-Kopfhörer auf. Es lief der Song „Me, myself and I“ von De La Soul. Der treibende Beat, die lässigen Raps, die ich zwar kaum verstand – aber soviel verstand ich dann doch: Das war aufregend anders als die Musik, die ich bisher gehört hatte. Bald fuhren wir nach der Schule zum Jungfernstieg – nicht, um am „Corner“ abzuhängen, der dort damals schon existierte, dafür waren wir zu jung. Unser Ziel war die W.O.M.-Filiale im Untergeschoss des Alsterhauses, wo wir uns Platten von Run D.M.C. oder Public Enemy anhörten. Oder wir gingen zu „American Sports“ am Gänsemarkt, wo es „Windbreaker“-Jacken und Sneakers gab. Klamotten, die auch die US-Rapper trugen. So fing es an. Fortan begleitete Hip-Hop mich durch meine gesamte Jugend.

EINE STADT WIRD BUNT

Die Ausstellung „EINE STADT WIRD BUNT.“ ist für mich also auch deshalb so faszinierend, weil hier die Insignien meiner Jugend in den Vitrinen liegen. Die Flyer, die Magazine, die Platten: Vieles kenne ich von früher. Und natürlich habe ich auch eine Zeit lang Cola-Dosen gesammelt, wie der fiktive Bewohner des „Jugendzimmers“, das Teil der Ausstellung ist – eine Zeitkapsel der späten 1980er Jahre. Wenn ich also heute, mit 45, durch die Ausstellung schlendere, werden Erinnerungen wach. An Partys, an Konzerte, an wilde Jahre mit der Clique.

Blick in einen Raum aus den 70ern mit zahlreichen Postern an den Wänden, einem Schreibtisch mit Stuhl und einem Regal an der Wand.
Blick in die Ausstellung EINE STADT WIRD BUNT, Jugendzimmer. Foto: ESWB

Hamburg war seit Mitte der 1980er Jahre eine Hip-Hop-Hochburg in Deutschland. Insofern gibt es sicher viele Menschen in dieser Stadt, die irgendwann zwischen 1970 und 1980 geboren wurden und heute mit ähnlichen Gefühlen durch diese Ausstellung gehen wie ich. Aber der persönliche Bezug von Teilen einer Alterskohorte kann den Erfolg von „EINE STADT WIRD BUNT“ nicht allein erklären. 60.000 Besucherinnen und Besucher in den ersten sechs Monaten! Es scheint ein Reiz vom Sujet dieser Schau auszugehen, der über simple Nostalgiegefühle einer Generation hinausreicht. Was das sein könnte? Vielleicht ist das Titelbild der Ausstellung der Schlüssel zu einer Antwort.

 

SonnyTee & CanTwo

Anruf bei Andre Ticoalu. Der 54-Jährige ist als Breaker unter dem Namen „SonnyTee“ und als Writer unter dem Namen „Jase“ bekannt und eine lebende Legende in der Hip-Hop-Szene. Er gibt Graffiti- und Breaking-Workshops, gehört zur künstlerischen Leitung der Hip-Hop Academy Hamburg – und ­er ist einer der beiden „Posterboys“ von „EINE STADT WIRD BUNT“: Auf dem Titelfoto sieht man ihn im Alter von 19 Jahren neben Fedor Wildhardt alias „CanTwo“, der heute einer der bekanntesten Graffitikünstler Deutschlands ist. Wie es zu dem Foto kam? „Das muss 1989 gewesen sein. Wir haben an dem Tag ein Bild in Halstenbek gemalt“, erzählt Sonny. „Danach haben wir eben noch Fotos gemacht.“

Andre Ticoalu, bekannt als SonnyTee hält ein Board in der Hand, die andere Hand streckt er Richtung Kamera. Rechts neben ihm steht ZACK und hält sein gestaltetes "Deck" in der Hand.
Oldschool-Graffiti Skateboard Deck Serie. Weitere Informationen zur Deckserie.

Ein Graffiti sprühen und dann noch kurz für die Kamera posieren. Die Beiläufigkeit, mit der dieses phänomenale Foto von „SonnyTee“ und „CanTwo“ entstanden ist, verrät viel über eine Subkultur, in der sich alles um die Performance dreht. Natürlich inszenierten auch „Mods“, „Punks“ und andere Subkulturen Distinktion mithilfe von Kleidungs- und Verhaltensregeln. Mit Hip-Hop aber begann die Ära einer Kulturpraxis, deren identitätsstiftender Kern die Inszenierung selbst ist – und die mit Rap, DJing, Graffiti oder Breaking über vier künstlerische Disziplinen verfügt, in denen der für alle Subkulturen zentrale Konflikt zwischen „Original“ und „Fälschung“ ausgehandelt werden kann. War es für frühere Szenen aber darum gegangen, politischen mit ästhetischem Protest zu verschmelzen, trat mit Hip-Hop eine Subkultur auf den Plan, die sich zwar einerseits gegen den Mainstream richtete, zugleich aber eine eigene „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ schuf, die nach den Spielregeln medialer Inszenierung funktionierte.

S-Bahnstation "Langenfelde" mit einem besprühten Wartehäuschen auf dem Bahnsteig.
1989 lobt die S-Bahn einen Graffiti-Wettbewerb aus, um den jungen Graffiti-Sprühern legale Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen. Gleichzeitig geht es auch darum, die komplett illegal vollgetaggten Wartehäuschen am S-Bahnhof Langenfelde und Diebsteich attraktiver zu gestalten. Im Vordergrund die Gewinnerbilder von B-Base, den 2. Platz macht Siko. | Foto: Werner “Mr.W” Skolimowski | / Courtesy: SHMH, MHG, EINE STADT WIRD BUNT.

Rückeroberung des öffentlichen Raums

Der erste, der die Bedeutung dieses Paradigmenwechsels erkannt hat, ist der französische Philosophen Jean Baudrillard. In dem kleinen Band „Kool Killer“ arbeitet er bereits 1978 heraus, dass das zentrale Merkmal der Tags und Pieces sei, dass sie eigentlich keine Bedeutung haben. Sie verwiesen auf nichts, als auf sich selbst. Gerade in dieser inhaltlichen Leere aber sieht Baudrillard ihre Kraft. Indem sie Werbung und Medien nicht auf der Ebene des Inhalts kritisierten, sondern sich deren Techniken und Mittel zunutze machten, stellten sie einen „Aufstand der Zeichen“ gegen die herrschende mediale Ordnung dar. Für Baudrillard stellt Graffiti eine Form von symbolischer Rückeroberung des öffentlichen Raums dar, der zunehmend durch Anonymisierung und Desozialisierung gekennzeichnet sei.

Auch die Soziologin Gabriele Klein sieht in der Hip-Hop-Kultur die Reaktion auf einen grundlegenden Bedeutungswandel der Stadt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie erkennt in der De-Industrialisierung zentrumsnaher Viertel, in der Verwahrlosung und Verslumung von Problembezirken sowie in der Musealisierung und Eventisierung von Stadtzentren Symptome des Übergangs zur postindustriellen Stadt. In dieser, von den Folgen Kapitalismus geprägten Stadt trete das Urbane „nicht mehr als gelebte städtische Kultur in Erscheinung“, sondern entfalte „seine Wirksamkeit als theatrales Gestaltungsmittel“. Im Übergang von der Industriegesellschaft zur Informations- und Mediengesellschaft, sei nicht mehr „Arbeit“ das zentrale strukturbildende Merkmal, sondern „Kommunikation“. Indem Writing die Stadt als Kommunikationsplattform entdeckt, stellt es also eine Reaktion auf diese Veränderungen dar. Oder: Wo geschichtslose Orte wie Bürostädte und Großwohnsiedlungen entstehen, werden, Strategien zur Wiederaneignung notwendig.

Blick auf das Kulturzentrum Kampnagel in den 80er Jahren. Die Wände sind mit Graffities besprüht.
Frühe Pieces auf Kampnagel in Winterhude, um 1986-87, Foto Geschichtswerkstatt Barmbek, EINE STADT WIRD BUNT

Das postindustrielle Hamburg

Nun ist Hamburg zwar nicht Paris, das mit den Banlieues die gesellschaftliche Spaltung in großem Stil buchstäblich in Beton gegossen hat. (An einer Metro, die Peripherie mit Zentrum verbindet, baut man erst jetzt.) Aber es ist schon bezeichnend, dass die Plattenbausiedlung Steilshoop mit ihren rund 20.000 Einwohner erst ab 2030 einen eigenen U-Bahn-Anschluss haben wird – rund 60 Jahre nach ihrem Bau. Was die Jugendlichen aus Steilshoop und anderen Vierteln aber nicht daran hinderte, den Alsteranleger am Jungfernstieg Ende der 1980er zu ihrem zentralen Treffpunkt zu machen. Oder die S-Bahn vom Verkehrsmittel zur Bühne für subkulturelle Inszenierungen im Stil der New Yorker Subway umzudeuten und entsprechend vollzutaggen. Oder S-Bahntunnel und Brachgelände zu markieren und damit symbolisch zu erobern. Indem „EINE STADT WIRD BUNT“ solche Geschichten von urbaner Raumaneignung erzählt, handelt die Ausstellung nicht nur von einer Generation, die anfing, Farbe auf Wände zu sprühen. Vielmehr erzählt sie von Hamburgs Weg zur postindustriellen Stadt, jenem, so Klein „symbolische(n) Ort, der die Komplexität, Widersprüchlichkeit und Brüchigkeit moderner Gesellschaften am deutlichsten demonstriert.“

Graffiti-Vorbilder

Andre Ticoalu, den die meisten einfach „Sonny“ nennen, erzählt mir am Telefon, dass das Foto, das jetzt als 18/1-Plakat in Hamburger U- und S-Bahn-Stationen Werbung für die Ausstellung machte, jahrzehntelang in irgendeinem Schuhkarton lag. Eine besondere Bedeutung hatte es für ihn nicht. Schließlich hätten sie, vor allem Fedor Wildhardt und er, früher ständig solche Fotos gemacht. „Unsere Vorbilder waren die Writer aus New York, die wir in Filmen wie ‚Wild Style‘ und Büchern wie ‚Subway Art‘ gesehen hatten.“ Es sei aber nicht darum gegangen, deren Look einfach zu imitieren. „Das hätte total bescheuert ausgesehen“, sagt Ticoalu. „Wir mussten also unseren eigenen Style entwickeln, mit der Sprühdose und natürlich auch in Sachen Kleidung.“

Die Longsleeves mit dem lässigen Schnitt gab es bei C&A, daran erinnert er sich gut. Die „CCCP“-Aufnäher hatten sie auf dem Hamburger Dom gekauft und sich einen passenden Namen für ihre Crew dazu ausgedacht: „Cold Chillin‘ Crime Partners“. Das brachte eine kleine Pointe mit sich: „Es gab in Amsterdam die ‚United Street Artists‘“, kurz: „U.S.A.“, erzählt Ticoalu. Die Antwort aus Hamburg: „CCCP“ – das kyrillische Kürzel für „UdSSR“. Der Mythos des Battles wurde hier schon in der Namensgebung beschworen. Die Kangol-Mützen hatten sie in einem alteingesessenen Hutladen in der Innenstadt aufgetrieben. Und an den Ketten um ihren Hals hingen ihre Sprayernamen ­– in Handarbeit aus einer Messingplatte gesägt.

Glokalisierung

Was Andre Ticoalu beschreibt, wird in der Sozialwissenschaft als „Glokalisierung“ bezeichnet. Popkulturelle Phänomene etwa würden zwar von global operierenden Medienindustrien, insbesondere von den USA aus, in die ganze Welt exportiert. Auf den Import folge jedoch nicht bloß der Konsum der Kultur, sondern deren lokale Aneignung und Ausdifferenzierung. Will sagen: Hip-Hop und Graffiti mögen aus New York kommen, haben aber in München, Dortmund oder Hamburg ganz unterschiedliche Blüten getrieben. Und so gehört zum Erfolg von „EINE STADT WIRD BUNT.“ auch, dass die Ausstellung diesem Spannungsfeld zwischen globaler Kulturware und lokaler Aneignung eine Bühne bereitet. Das fängt schon mit dem Titelfoto an, von dem man annehmen könnte, es sei in der New Yorker Bronx aufgenommen worden. Beschäftigt man sich aber mit den Details der Inszenierung, kommt man den Strategien lokaler Re-Kontextualisierung auf die Spur. Indem die Ausstellung genau das für Hip-Hop und Graffiti leistet, trägt sie zu einem tiefen Verständnis der Hybridität von Popkultur bei.

Und so schlägt „EINE STADT WIRD BUNT“ – vom Titelmotiv bis zum originalgetreu nachempfundenen Jugendzimmer der späten 1980er Jahre – den weiten Bogen einer Subkultur, die in mancherlei Hinsicht eine neue Ära einleitete. Graffiti etwa war zwar einerseits eine „Gegenkultur“ und im steten Konflikt mit dem Gesetz. Zugleich ist Hip-Hop die erste Subkultur, für die das der sportliche Wettkampf in Form des Battles zentrales Identitätsmerkmal ist. Zudem standen viele Rapper, DJs, Writer und Breaker immer wieder vor einem Dilemma: Einerseits wollten sie ihr Können zu Geld machen. Andererseits wollten sie nicht in Verdacht geraten, Sellout zu betreiben, sich also für den Markt zu „verbiegen“.

Da es auf solche Fragen nur ambivalente Antworten geben kann, stellt Hip-Hop eine Subkultur dar, die – wie keine zuvor – die „Hybridität der Postmoderne“, also das komplexe Neben- und Miteinander scheinbar widersprüchlicher Identitätskonstruktionen verkörpert. Die Ära des „Entweder-oder“ ging zu Ende, es begann das Zeitalter des „Sowohl-als-auch“. Ein Prinzip, das auch im Titel der Ausstellung zum Ausdruck kommt. Den man sich übrigens einmal laut vorlesen sollte, ohne dabei an Sprühlack auf Mauern zu denken: Eine Stadt wird bunt.

Ein rotes Auto parkt vor einer Bauwand. Diese Bauwand wurde von der MAC-Crew besprüht, dies war eine Auftragsarbeit der Hypothekenbank 1989. Hinter der Bauwand stehen gelbe Bauwagen.
Auftragsarbeit der MAC-Crew („Mad Artist Cooperation“) auf einer ca. 120 m² großen Bauzaunfläche an der Baustelle der Hypothekenbank AG in der Innenstadt im Juni 1989. Beteiligte sind unter anderem Sage1, Siko, Echo, Cartoone, ArtOne und jbk. Character und Gangster-Schriftzug auf dieser Abbildung von Sage1. Er nennt sich davor noch Mickey, Wizz und später Mikel. | Foto: Andreas Timm / Michael Kiessling / Courtesy: SHMH, MHG, EINE STADT WIRD BUNT.